Jüdisches Leben
in Bayern

Jüdisches Bildungswesen in Bayern

Gemäß ihrem Recht auf eine interne Selbstverwaltung blieb die "Judenschaft" im Heiligen Römischen Reich für ihr Schulwesen selbst verantwortlich. Bildung war im Judentum schon immer hoch angesehen: Alle Knaben besuchen verpflichtend eine Schule, in der sie neben Grundzügen der Religionskunde auch Lesen und Schreiben lernen. Im Mittelalter war dies deutlich mehr, als sich christliche Kinder üblicherweise erhoffen konnten. Knaben gingen ab dem Alter von drei Jahren bis zu ihrer Bar Mizwa mit 13 Jahren zur Schule. Praktische Kenntnisse für das spätere Berufsleben wurden in den Familien vermittelt – dazu zählte auch das Rechnen mit den vielen unterschiedlichen Maßeinheiten und Münzen. Mädchen bekamen in der Regel nur einen rudimentären Heimunterricht von ihren Müttern.

Der traditionelle Lehrer (Melamed) wurde von seiner Gemeinde bezahlt und untergebracht. Ein eigenes Schulgebäude blieb noch die Ausnahme, entweder fand der Unterricht in einer Privatwohnung statt (hebr. Cheder für Schule = Zimmer/Stube), oder in einem Raum der Synagoge. Davon leitet sich auch die historische Bezeichnung "Judenschule" ab. Wohlhabende konnten sich einen eigenen Hauslehrer leisten, der mit der Familie zusammenwohnte.

Ein weiterführendes Studium war Juden lange Zeit nur in einer Tora-Talmud-Hochschule (Jeschiwa) möglich, denn der Besuch einer Universität blieb ihnen im christlichen Europa verboten. Gemäß der Halacha hat jeder Gemeinderabbiner das Recht, eine Jeschiwa zu gründen. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit genossen einige dieser Hochschulen in Bayern einen internationalen Ruf und wurden von hunderten Studenten besucht. Dazu zählten die Jeschiwot in Regensburg, Rothenburg ob der Tauber sowie Fürth. Ausschließlich Männer wurden dabei in einem Beit Midrasch ("Klaus") genannten Gebäude unterrichtet, das sich in der Regel in der Nähe der Synagoge befand. Ihr Auskommen wurde mit Spenden und aus dem Steueraufkommen der Gemeinde bestritten, der Unterricht blieb kostenfrei. Eine Regelstudienzeit gab es nicht. Nach einigen Jahren konnten die jungen Männer mit der Lehrerlaubnis des Rabbiners (Semicha) selbst eine Rabbinerstelle antreten oder sich einem weltlichen Beruf widmen.

Ab dem späten 17. Jahrhundert beeinflusste die geistige Bewegung der Aufklärung das Judentum in West- und Mitteleuropa. Jüdische Denker und Rabbiner begannen, die althergebrachten religiösen Traditionen zu hinterfragen. Vermehrt forderten sie, dass Juden durch eine Teilnahme am gesellschaftlichen Wandel einerseits, durch gerechtere Gesetze der Obrigkeit andererseits zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft werden sollten. Sie ließen jedoch ein wichtiges Thema so gut wie unberührt: Das Bildungswesen blieb strukturell das gleiche wie im Mittelalter. An den Jeschiwot hing es von den lehrenden Rabbinern und jedem Studenten selbst ab, ob sie auch naturwissenschaftliche oder philosophische Themen behandelten. Nach Bayern gelangten die Ideen der jüdischen Aufklärung (Haskala) zunächst über einzelne Gelehrte, die zeitweise in Regensburg, Würzburg und Fürth lebten. Die Mehrheit der Rabbiner und Jeschiwot blieben jedoch der traditionsorientierten, konservativen Richtung verhaftet.

Während die christliche Obrigkeit im 18. Jahrhundert neue Vorstöße zur Verbesserung von Unterricht und Lehrstoff unternahm, kümmerte sie sich nur in den seltensten Fällen um die jüdischen (Religions-)Schulen. Aus Adelsberg ist jedoch eine "Judenordnung" von 1772 erhalten, mit der Johann Karl Wilhelm Freiherr von Drachsdorff (1723–1805) alle religiösen und organisatorischen Belange seiner Schutzjuden regelte. Unter anderem wird darin festgehalten, dass die jüdischen Knaben vom vierten bis zum zwölften Lebensjahr den Unterricht des Vorsängers (Chasan) besuchen sollten, der in diesem Fall auch das Amt des Lehrers übernahm. Mädchen wurden vom fünften bis zum elften Lebensjahr unterrichtet. Die Schulgebühren blieben nach dem Anspruch des Unterrichts gestaffelt, wobei die Eltern für ein "a. b. c. lernendes Kindt" den Preis einer halben Stunde zu zahlen hatten, für ein "Kindt welches den Talmud studiret" jedoch den vollen Preis.

Im Jahr 1804 wurde jüdischen Kindern der Zugang zu öffentlichen Schulen gestattet. Das Bayerische Judenedikt von 1813 betonte, dass sie nun den "gleichen Unterricht" wie die Kinder christlicher Konfessionen erhalten sollten, außerdem die Möglichkeit zum Besuch höherer Bildungseinrichtungen. Im Sinne eines modernen, zentralistischen Staatsgedankens sollten offizielle Lehrpläne die alten "Winkelschulen" im Land ersetzen. Pädagogen mussten bayerische Staatsbürger sein, eine akademische Bildung vorweisen oder wenigstens ein staatliches Examen ablegen, bevor ihnen die Regierung eine Lehrerlaubnis erteilte. Mit zunehmender Tendenz besuchten jüdische Kinder nun öffentliche Bildungseinrichtungen.

Jüdische Kultusgemeinden konnten eigene Schulen zu gründen, sofern sie dem Lehrer ein Jahresgehalt von wenigstens 300 Gulden bezahlen konnten und über geeignete Räumlichkeiten verfügten. Diese Israelitischen Volks- bzw. Elementarschulen entstanden überwiegend während der 1820er bis 1840er Jahre. Repräsentative neue Gebäude waren auch ein Symbol für den gewachsenen Wohlstand und das neue Selbstbewusstsein der jüdischen Staatsbürger. Diese Schulen folgten dem staatlichen Lehrplan und stellten ein gleichwertiges Abschlusszeugnis aus. Dadurch stand bayerischen Juden der höhere Bildungsweg offen, was ihnen den sozialen Aufstieg in akademische Berufe und den Staatsdienst ermöglichte. Am 22. Mai 1841 wurde mit Jakob Herz (1816–1871) erstmals ein jüdischer Akademiker an eine bayerische Universität berufen.

Daneben gab es auch weiterhin die klassischen Religionsschulen, weil der Staat die einzelnen Kultusgemeinden mit der Organisation des religiösen Unterrichts beauftragte und lediglich dessen Qualität überprüfte. Diese Schulen befanden sich oft in unmittelbarer Nähe zur Synagoge oder im gleichen Gebäude. Arme oder kleine Kultusgemeinden mussten sich in Schulsprengeln zusammenschließen, um gemeinsam die Kosten stemmen zu können.

Mit zunehmender Assimilation der bayerischen Jüdinnen und Juden wuchs auch der Bedarf nach weiterführenden Bildungseinrichtungen. Ein Schwerpunkt bildete Unterfranken: Von 1848 bis 1881 vermittelte in Segnitz das nach Julius Brüssel (1801–1855) benannte "Brüssel’sche Handelsinstitut" gleichermaßen religiöse Bildung und praxisnahe Kenntnisse in den kaufmännischen Disziplinen, Sachfächern und Fremdsprachen. Schüler kamen aus halb Europa, die Schule wurde 1881 nach Frankfurt a.M. verlegt.

Der in Theilheim bei Schweinfurt geborene Rabbiner Mendel Rosenbaum (1782–1868) erwarb 1822 die Gebäude des säkularisierten Prämonstratenserinnen-Klosters in Zell am Main. Der ehemalige Handelsreisende baute eine florierende Nagelschmiede auf und finanzierte damit eine Jeschiwa, die bald einen überregionalen Ruf genoss. Zu seinen ersten Schülern zählte Moses Weiskopf, der später Rabbiner in Paris wurde. Rosenbaum hatte auch in der Politik großen Einfluss und versuchte die Situation der jüdischen Bevölkerung zu verbessern.

In den 1860er und frühen 1870er Jahren akzeptierten die Studentenverbindungen in deutschen Universitätsstädten relativ problemlos jüdische Mitglieder, weil sich die Studentenschaft ohnehin als gesonderte, elitäre Klasse betrachtete ("Corpsgeist"). Mit der lang anhaltenden Wirtschaftskrise nach dem Gründerkrach 1873 änderte sich die Lage: Einerseits verschlechterten sich die Chancen der Hochschulabsolventen auf dem Arbeitsmarkt, andererseits stieg der Anteil jüdischer Studenten immer weiter an. Zunehmend wurden Juden in der akademischen Welt als Bedrohung und Konkurrenz empfunden. Ab den 1880er Jahren entstanden daher gemischte und sogar ausschließlich jüdische Studentenverbindungen.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts lehnte das einflussreiche deutsche Reformjudentum die getrennten Volksschulen als Ausdruck einer rückständigen Ghettoisierung zunehmend ab. Traditionelle Kreise sahen darin jedoch einen Rettungsanker, um ihre schwindende jüdische Lebensart zu bewahren. Daher gründete der streng konservative Rabbiner Seligmann Bär Bamberger (1807–1878) in der Universitätsstadt Würzburg neben seiner Jeschiwa eine Volksschule und 1864 die "Israelitische Lehrerbildungsanstalt" (ILBA).

Damit legte Bamberger die Grundlage für die Ausbildung gesetzestreuer, d.h. konservativer Lehrer und Rabbiner, die Würzburgs Ruf als "Bollwerk der Orthodoxie in Bayern" begründeten. Rabbiner Lazarus Ottensoser (1798–1876) hatte bereits im Jahr 1841 eine Jeschiwa in Höchberg gegründet. Auf Anregung von Rabbiner Bamberger wandelte sie Ottensoser bis 1863 in eine Präparandenschule für Lehramtskandidaten um. Erfolgreiche Absolventen konnten an die ILBA oder staatliche Lehrerseminare wechseln.

Der NS-Staat verbot jüdischen Kindern ab dem 15. November 1938 die Teilnahme am Unterricht, mancherorts wurde diese diskriminierende Maßnahme bereits früher erlassen. Die Würzburger ILBA, die zu einer zentralen Anlaufstelle der bedrängten Kultusgemeinden geworden war, musste nun entgültig schließen. Alle jüdischen Studentenverbindungen wurden zwangsweise aufgelöst, jüdische Akademiker erhielten Lehr- und Berufsverbote. Heimunterricht wie im Falle der damals 18jährigen Elisabeth Block in Rosenheim konnte nur ein notdürftiger Ersatz bleiben.

Nach 1945 kamen Überlebende der Shoah vorerst in jüdischen DP-Lagern auf deutschem Boden unter. Zur Vorbereitung auf die Auswanderung nach Israel oder in die USA entstanden eigene DP-Bildungsstätten, die zum Teil von der ORT ausgestattet wurden. Wegen der hohen Emigrationszahlen wurden diese Einrichtungen Anfang der 1950er Jahre aufgelöst. 1966 und in den frühen 2000er Jahren öffneten einzelne jüdische Kindergärten, Grundschulen und Gymnasien in Bayern, die als Privatschulen eine ausdrückliche jüdische Identität pflegen. Auch an den Hochschulen gibt es wieder aktive jüdische Studierendenverbände mit eigenem Kultur- und Freizeitangebot.

(Patrick Charell)


Quellen

um 1590: "Bamberger Siddur" aus Dormitz

1772: Judenordnung aus Adelsberg

1808: Denkschrift von Elkan Henle aus Fürth

1813: Bayerisches Judenedikt

1867: Jüdische Wohlfahrt in Fürth

1935: Nürnberger Rassengesetze

2023: Rabbinerkonferenz (CER) in München

Zeitzeugen

Herbert Loebl: Schulzeit in den ersten Jahren der NS-Herrschaft.

Karoline Künstler: Aufbau einer Frauenwirtschaftsschule in Breslau, spricht über die Zeit in Palästina.

Nachum Tim Gidal: Das Zugehörigkeitsgefühl zur deutsch-bayerischen Kultur.

Glossar

Bar Mizwa

BC (Burschenbunds-Convent)

Bierzipfel (Stud.)

Cheder

Elementarschule syn. Volksschule

Haskala

Jeschiwa

Judenregal syn. Judenschutz

Melam(m)ed

ORT

Rabbiner

Reformjudentum

UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration)

Unterrichtswesen (Jüd.)

Winkelschule

Gemeinden und Orte

Coburg (Gemeinde)

Erlangen (Gemeinde)

Fürth (Gemeinde)

Höchberg (Gemeinde)

München (Gemeinde)

Prien a.Chiemsee (Gemeinde)

Segnitz (Gemeinde)

Würzburg (Gemeinde)

Zell a.Main (Gemeinde)

Personen

Jehuda "der Fromme" ben Samuel, Rabbiner und Religionsphilosoph, Gründer einer Jeschiwa

Meir ben Baruch, Rabbiner und Gründer mehrerer Jeschiwot

Joseph Isaak, Buchhändler und Aufklärer

---

Abraham Bär Bing, (Landes-)Rabbiner von Würzburg und Gründer einer Jeschiwa.

Otto Iwan Driesen, Pädagoge und Schulleiter des "Philantropin" in Frankfurt a.M.

Lazarus (Elieser) Ottensooser, Gründer der israelitischen Präparandenschule Höchberg

Leopold Stein, Rabbiner, Pädagoge und Schriftsteller

Jakob Stolp, Rabbiner, Pädagoge und Schulbuchautor

---

Wilhelm "Willy" Aaron, ehem. Verbindungsstudent und Jurist, Gewaltopfer der Nationalsozialisten in Bamberg

Elisabeth "Lisi" Block, Schülerin

Schalom Ben-Chorin, Philosoph, Schriftsteller und Journalist, ehem. Schüler in München

Albert Einstein, Nobelpreisträger, ehem. Schüler und Student in München

Jakob Herz, Mediziner, erster jüdischer Professor in Bayern