geb. um 1140,
Speyer
gest. 22.02.1217,
Regensburg
Wirkungsort:
Regensburg
Jehuda ben Samuel zählt zu den einflussreichsten ethisch-religiösen Denkern des europäischen Mittelalters. Sein "Buch der Frommen" (Sefer Hasidim) wurde für Jahrhunderte zum wichtigsten pietistischen Erbauungsbuch der aschkenasischen Juden. In Regensburg führte Jehuda über zwanzig Jahre lang eine Jeschiwa mit Studenten aus ganz Europa. Seine Schriften publizierte er zeitlebens anonym, weil seine Nachkommen nicht in stolze Überheblichkeit verfallen sollten. So wurde Jehuda "der Fromme" ähnlich dem Rabbiner Judah Löw in Prag zur zauberkundigen, legendären Figur. Bis heute ranken sich viele Geschichten und jüdische Volkserzählungen um seine Person.
Rabbiner Jehuda ben Samuel entstammt der berühmten Theologenfamilie Kalonymus. Sein Vater Samuel ben Kalonymus (1115-1180) lehrte in Speyer. Er begründete mit seinem Sohn Jehuda den jüdisch-"deutschen" Pietismus (Chasidut ha-Ashkenazit bzw. Haside Ashkenaz). Dabei handelte es sich um eine populäre religiöse und soziale Bewegung mit einem detaillierten sozialreformatorischen Programm, die in der Forschung teilweise als geschlossene, jüdische Bewegung einer volkstümlichen Mystik interpretiert wird. Jehuda lernte unter seinem Vater, sowie bei den Rabbinern Jomtov dem Heiligen und Isaak ben Samuel. Auch sein jüngerer Bruder widmete sich dem Studium und leitete später eine Jeschiwa in Speyer.
Vielleicht im Zusammenhang mit den ab 1195/96 aufflackernden Judenverfolgungen in seiner Geburtsstadt ging Jehuda ben Samuel nach Regensburg und gründete eine eigene Jeschiwa, an der er 21 Jahre lang lehrte. Die Regensburger Gemeinde war zu dieser Zeit eine der größten und bedeutendsten im Heiligen Römischen Reich. Durch den Zuzug Rabbi Judas und seiner Anhänger wurde die Stadt nun auch ein wichtiges spirituelles Zentrum für das aschkenasische Judentum.
Rabbiner Jehuda stand mit den bedeutendsten Halakhisten seiner Zeit im Kontakt. Auch eine Reihe von talmudischen Randglossen (Tossafot) geht auf ihn zurück. Als einziger Pietist gehörte Jehuda ben Samuel dem rabbinischen Gericht (bet Din) von Regensburg an und beteiligte sich an dessen Rechtsprechung. Der große Rabbiner erkrankte am 18. Februar 1217 und starb am 22. Februar. Er wurde auf dem örtlichen jüdischen Friedhof begraben. Seine Jeschiwa löste sich auf, die Studenten zerstreuten sich. Von den Söhnen und Enkeln erreichte keiner mehr seine Bedeutung. Regensburg wurde im rabbinischen Schrifttum für Jahrhunderte als "heilige Gemeinde von Rabbiner Jehuda dem Frommen" bezeichnet.
Nach seinem Tod rankten sich Legenden um den Kern historischer Tatsachen. Sagenhaft sei bereits seine Geburt und die Berufung im Alter von 18 Jahren gewesen. Jehudas magische Fähigkeiten hätten (wie in der Legende um den Rabbiner Löw in Prag) eine ungerechtfertigte Mordanklage und damit ein Pogrom gegen die Regensburger Juden verhindert und dem bayerischen Herzog versunkene Schätze beschafft. Jehuda soll auch der wahre Schöpfer des Golem gewesen sein, und nur der Todesengel konnte verhindern, dass der greise Rabbiner das genaue Datum des Weltendes niederschreiben konnte. Im "Ma'assebuch", einer 1602 erstmals gedruckten Sammlung religiöser und sagenhafter Erzählungen (hebr. ma'asse), nimmt Jehuda sogar messianische Züge an: Er konnte vor den Qualen der Feuerhölle retten, habe am Sederabend den Propheten Elija bewirtet, und Gott selbst habe ihn als seinen Sohn bezeichnet. Dank der Mythen um Jehuda den Frommen ging die untergegangene Welt des Regensburger Judenviertels in das Reich der Sage ein, wo sie die Zeiten bis heute überdauert.
Jehudas esoterisches Hauptwerk ist das "Buch der göttlichen Herrlichkeit" (Sefer hak-kabod). Er schrieb darin den ersten umfassenden Kommentar zu den Texten der jüdischen Liturgie. Das achtbändige Werk ist nicht erhalten, es existieren jedoch umfassende Zitate im Kompendium der Gebetsmystik "Geheimnisse der Liturgie" (Sodot hat-tefilla) seiner Schüler. Jehuda polemisierte gegen jede Hinzufügung oder Auslassung, da nur die vollständige Widergabe der Texte im "heiligen Rythmus" eine Verbindung zum Göttlichen erlaube. Er verfasste einzelne liturgische Lieder (Pijutim), am bekanntesten ist sein Hymnus "An' im zemirot", der sich in fast allen aschkenasischen Gebetbüchern im Mussafgebet des Sabbat findet. Mit dem "Buch der Frommen" (Sefer Hasidim) schuf Jehuda ben Samuel eine revolutionäre neue Ethik. Das bislang nicht übersetzte Werk bietet ein geschlossenes System der Unterweisung. Es enthält knapp 2000 Gleichnisse, Parabeln und dämonologische Erzählungen, esoterische Ethik, Gebetsmystik, Wundergeschichten sowie Bibel, Talmud- und Midraschauslegungen. Viele Kapitel behandeln ganz praktische Dinge wie etwa der Umgang mit dem Zinswesen oder das Zusammenleben mit Christen. Es handelt von Ärzten und Krankheiten, Jehuda spricht sich darin auch für die Erziehung und Unterweisung von Mädchen im Talmud aus. Der größte Teil des Buches behandelt natürlich religiöse Fragen des Pietismus:
Die Pietisten brachten in die jüdische Theologie als erste Schrift vor der Kabbala die Idee einer "mehrschichtigen" Gottheit ein. Der verborgene, höchste und ewige Gott ist der Schöpfer, die Quelle aller Naturgesetze und der Gesellschaft. Die göttliche Macht ist die Kabod, eine durch die Prophetie offenbarte Emanation, die verschiedene Formen annehmen kann. Sie ist in den Synagogen der Pietisten anwesend und flieht jeden bösen Ort. Während die Naturgesetze nach dem Willen des Schöpfers unveränderlich sind, kann die Kabod übernatürliche Wunder wirken und offenbart einzig den Willen des Schöpfers. Jehuda gibt ein sozialethisches, ökonomisches und politisches Programm der Idealgesellschaft der Haside Ashkenaz nach den Leitmotiven "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" (Lev 19,17) und "jeder in Israel ist für den anderen verantwortlich" . Er unterscheidet Pietisten, nichtpietistische Juden und Christen, die er den Nichtpietisten in vieler Hinsicht gleichstellt. Pietisten sollten sich von beiden anderen Gruppen streng absondern, das Erkennungszeichen war der zu jeder Zeit (nicht nur zur Liturgie) getragene Gebetsschal mit den vier Schaufransen. Weltliches Vergnügen wie Würfelspiel, Tanz und höfische Gesellschaftsformen wie der Minnedienst waren ihnen verboten. Jehuda kehrte den rabbinischen Lehrsatz um, dass die Belohnung proportional zum Leid sei, und schuf eine puritanische Weltanschauung: Was im Diesseits erfreue, vermindere die Belohnung in der kommenden Welt, zentrale Motive sind Buße und Reuhe. Für die Geschichtswissenschaften ist Jehudas Werk eine wichtige Quelle des Alltagslebens im Mittelalter, denn es ist auch vom christlichen Milieu von Regensburg geprägt. Es enthält deutsche Fachausdrücke und spiegelt den allgegenwärtigen Glauben an Zauberei, den Bösen Blick, Widergänger, Werwölfe und Dämonen.
Aus: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.) / Manfred Treml / Wolf Weigand: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, Bd. 2: Lebensläufe. München 1988 (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 18), S. 13-20.
(Andreas Angerstorfer | bearb. Patrick Charell)
Literatur
- Bertha Pappenheim: Maasse-Buch. Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache. Berlin 2014.
- Siegfried Wittmer: Jüdisches leben in Regensburg. Vom frühen Mittelalter bis 1519. Regensburg 2001, S. 40-61.
- Andreas Angerstorfer: Rabbi Jehuda Samuel he-Hasid (um 1140-1217), der "Pietist". In: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.) / Manfred Treml / Wolf Weigand: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, Bd. 2: Lebensläufe. München 1988 (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 18), S. 13-20.
Quellen
GND: 119012154