Deutsches Reichsgesetzblatt, Jg. 1935, Teil I Nr. 100 (16. September), S. 1145, 1146–1147 u. Nr. 125 (14. November), S. 1334-1336. The Internet Archive, Digitalisat 30. April 2008 (CC BY 4.0 DEED).
Vorbemerkung
Am 15. September 1935 wurden drei neue Gesetze auf dem gleichgeschalteten Reichstag in Nürnberg beschlossen. Sie richteten sich gegen jene Menschen, die von den Nationalsozialisten als Juden verfolgt wurden, aber auch gegen Sinti und Roma sowie andere Minderheiten. Das "Reichsbürgergesetz" und das "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" sprach deutschen Jüdinnen und Juden die Staatsbürgerschaft ab. Auf der Basis einer zutiefst menschenfeindlichen, pseudo-wissenschaftlichen Erblehre wurden Eheschließungen und sogar der Geschlechtsverkehr zwischen "Ariern" und Juden bei Strafe verboten. Als Menschen zweiter Klasse war es ihnen nicht einmal mehr erlaubt, die deutsche Nationalflagge zeigen, zu der die Parteifahne der NSDAP mit dem gleichzeitig erlassenen "Reichsflaggengesetz" erhoben wurde. Die Nürnberger Gesetze waren nach den wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen ein weiterer Schritt der NS-Diktatur hin zur Ausgrenzung und Entmenschlichung der deutschen Juden.
Kurz nach der Verabschiedung der Rassengesetze wurde am 14. November 1935 festgeschrieben, dass "jüdische Mischlinge mit zwei jüdischen Großeltern" nur noch mit ausdrücklicher Genehmigung "Deutschblütige" oder "jüdische Mischlinge mit einem jüdischen Großelternteil" ehelichen durften. Entsprechende Anträge blieben jedoch meist erfolglos; nach 1942 wurden sie "für die Dauer des Krieges" nicht mehr angenommen. Ehen zwischen zwei "Vierteljuden" waren nicht erlaubt, heiraten konnten hingegen "Vierteljuden" und "Deutschblütige". Die unwissenschaftlichen, teils bewusst schwammigen Formulierungen förderten weiteren Missbrauch und Willkür. Das zeigte sich auch darin, dass jüdischstämmige Menschen, die sich für das Regime als nützlich erwiesen, zu "Ehrenariern" ernannt werden konnten.
Quellentext
[1.] Reichsflaggengesetz. Vom 15. September 1935.
Der Reichstag hat einstimmig das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird:
Artikel 1. Die Reichsfarben sind schwarz-weiß-rot.
Artikel 2. Reichs- und Nationalflagge ist die Hakenkreuzflagge. Sie ist zugleich Handelsflagge.
Artikel 3. Der Führer und Reichskanzler bestimmt die Form der Reichskriegsflagge und der Reichsdienstflagge.
Artikel 4. Der Reichsminister des Innern erlässt, soweit nicht die Zuständigkeit des Reichskriegsministers gegeben ist, die zur Durchführung und Ergänzung dieses Gesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften.
Artikel 5. Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung in Kraft.
Nürnberg, den 15. September 1935, am Reichsparteitag der Freiheit.
Der Führer und Reichskanzler, Adolf Hitler
Der Reichsminister des Innern, [Wilhelm] Frick
Der Reichskriegsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht, [Werner] von Blomberg
[2.] Reichsbürgergesetz. Vom 15. September 1935.
Der Reichstag hat einstimmig das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird:
§ 1. 1) Staatsangehöriger ist, wer dem Schutzverband des Deutschen Reiches angehört und ihm dafür besonders verpflichtet ist. 2) Die Staatsangehörigkeit wird nach den Vorschriften des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes erworben.
§ 2. 1) Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, daß er gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen. 2) Das Reichsbürgerrecht wird durch Verleihung des Reichsbürgerbriefes erworben. 3) Der Reichsbürger ist der alleinige Träger der vollen politischen Rechte nach Maßgabe der Gesetze.
§ 3 Der Reichsminister des Innern erlässt im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers die zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften.
Nürnberg, den 15. September 1935, am Reichsparteitag der Freiheit.
Der Führer und Reichskanzler, Adolf Hitler
Der Reichsminister des Innern, [Wilhelm] Frick
[3.] Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre. Vom 15. September 1935.
Durchdrungen von der Erkenntnis, daß die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist, und beseelt von dem unbeugsamen Willen, die Deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern, hat der Reichstag einstimmig das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird:
§ 1. 1) Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten. Trotzdem geschlossene Ehen sind nichtig, auch wenn sie zur Umgehung dieses Gesetzes im Ausland geschlossen sind. 2) Die Nichtigkeitsklage kann nur der Staatsanwalt erheben.
§ 2. Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten.
§ 3. Juden dürfen weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren in ihrem Haushalt nicht beschäftigen.
§ 4. 1) Juden ist das Hissen der Reichs- und Nationalflagge und das Zeigen der Reichsfarben verboten. 2) Dagegen ist ihnen das Zeigen der jüdischen Farben gestattet. Die Ausübung dieser Befugnis steht unter staatlichem Schutz.
§ 5. 1) Wer dem Verbot des § 1 zuwiderhandelt, wird mit Zuchthaus bestraft. 2) Der Mann, der dem Verbot des § 2 zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis oder mit Zuchthaus bestraft. 3) Wer den Bestimmungen der §§ 3 oder 4 zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr und mit Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen bestraft.
§ 6. Der Reichsminister des Innern erlässt im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers und dem Reichsminister der Justiz die zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften.
§ 7. Das Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung, § 3 jedoch erst am 1. Januar 1936 in Kraft.
Nürnberg, den 15. September 1935, am Reichsparteitag der Freiheit.
Der Führer und Reichskanzler, Adolf Hitler
Der Reichsminister des Innern, [Wilhelm] Frick
Der Reichsminister der Justiz, Dr. [Franz] Gürtner
Der Stellvertreter des Führers, R[udolf] Heß, Reichsminister ohne Geschäftsbereich
[4.] Ersten Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre. Vom 14. November 1935.
Auf Grund des § 6 des Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom1 5. September 1935 (Reichsgesetzbl. I S. 1146) wird folgendes verordnet:
§ 1. 1) Staatsangehörige sind die deutschen Staatsangehörigen im Sinne des Reichsbürgergesetzes. 2) Wer jüdischer Mischling ist, bestimmt § 2 Abs. 2 der Ersten Verordnung vom 14. November 1935 zum Reichsbürgergesetz (Reichsgesetzbl. I S. 1333). 3) Wer Jude ist, bestimmt § 5 der gleichen Verordnung.
§ 2. Zu den nach § 1 des Gesetzes verbotenen Eheschließungen gehören auch die Eheschließungen zwischen Juden und staatsangehörigen jüdischen Mischlingen, die nur einen volljüdischen Großelternteil haben.
§ 3. 1) Staatsangehörige jüdische Mischlinge mit zwei volljüdischen Großeltern bedürfen zur Eheschließung mit Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes oder mit staatsangehörigen jüdischen Mischlingen, die nur einen volljüdischen Großelternteil haben, der Genehmigung des Reichsministers des Innern und des Stellvertreters des Führers oder der von ihnen bestimmten Stelle. 2) Bei der Entscheidung sind insbesondere zu berücksichtigen die körperlichen, seelischen und charakterlichen Eigenschaften des Antragstellers [SIC!], die Dauer der Ansässigkeit seiner Familie in Deutschland, seine oder seines Vaters Teilnahme am Weltkrieg und seine sonstige Familiengeschichte. 3) Der Antrag auf Genehmigung ist bei der höheren Verwaltungsbehörde zu stellen, in deren Bezirk der Antragsteller seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. 4) Das Verfahren regelt der Reichsminister des Inneren im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers.
§ 4. Eine Ehe soll nicht geschlossen werden zwischen staatsangehörigen jüdischen Mischlingen, die nur einen volljüdischen Großelternteil haben.
§ 5. Die Ehehindernisse wegen jüdischen Bluteinschlages sind durch § 1 des Gesetzes und durch §§ 2 bis 4 dieser Verordnung ebenfalls erschöpfend geregelt.
§ 6. Eine Ehe soll ferner nicht geschlossen werden, wenn aus ihr eine die Reinerhaltung des deutschen Blutes gefährdende Nachkommenschaft zu erwarten ist [SIC!].
§ 7. Vor der Eheschließung hat jeder Verlobte durch das Ehetauglichkeitszeugnis (§2 des Ehegesundheitsgesetzes vom 18. Oktober 1935 - Reichsgesetzbl. I S. 1246) nachzuweisen, daß kein Ehehindernis im Sinne des § 6 dieser Verordnung vorliegt. Wird das Ehetauglichkeitszeugnis versagt, so ist nur die Dienstaufsichtsbeschwerde zulässig.
§ 8. 1) Die Nichtigkeit einer entgegen dem § 1 des Gesetzes oder dem § 2 dieser Verordnung geschlossenen Ehe kann nur im Wege der Nichtigkeitsklage geltend gemacht werden. 2) Für Ehen, die entgegen den §§ 3, 4 und 6 geschlossen worden sind, treten die Folgen des § 1 und des § 5 Abs. 1 des Gesetzes nicht ein.
§ 9. Besitzt einer der Verlobten eine fremde Staatsangehörigkeit, so ist vor einer Versagung des Aufgebotes wegen eines der im § 1 des Gesetzes oder in den §§ 2 bis 4 dieser Verordnung genannten Ehehindernisse sowie einer vor einer Versagung des Ehetauglichkeitszeugnisses in Fällen des § 6 die Entscheidung des Reichsministers des Inneren einzuholen.
§ 10. Eine Ehe, die vor einer deutschen Konsularbehörde geschlossen ist, gilt als im Inlande geschlossen.
§ 11. Außerehelicher Verkehr im Sinne des § 2 des Gesetzes ist nur der Geschlechtsverkehr. Strafbar nach § 5 Abs. 2 des Gesetzes ist auch der außereheliche Verkehr zwischen Juden und staatsangehörigen jüdischen Mischlingen, die nur einen volljüdischen Großelternteil haben.
§ 12. 1) Ein Haushalt ist jüdisch (§ 3 des Gesetzes), wenn ein jüdischer Mann Haushaltsvorstand ist oder der Hausgemeinschaft angehört. 2) Im Haushalt beschäftigt ist, wer im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses in die Hausgemeinschaft aufgenommen ist, oder wer mit alltäglichen Haushaltsarbeiten oder anderen alltäglichen, mit dem Haushalt in Verbindung stehenden Arbeiten beschäftigt ist. 3) Weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, die beim Erlaß des Gesetzes in einem jüdischen Haushalt beschäftigt waren, können in diesem Haushalt in ihrem bisherigen Arbeitsverhältnis bleiben, wenn sie bis zum 31. Dezember 1935 das 35. Lebensjahr haben. 4) Fremde Staatsangehörige, die weder ihren Wohnsitz noch ihren dauernden Aufenthalt im Inlande haben, fallen nicht unter diese Vorschrift.
§ 13. Wer dem Verbot des § 3 des Gesetzes in Verbindung mit § 12 dieser Verordnung zuwiderhandelt, ist nach § 5 Abs. 3 des Gesetzes strafbar, auch wenn er nicht Jude ist.
§ 14. Für Verbrechen gegen § 5 Abs. 1 und 2 des Gesetzes ist im ersten Rechtszuge die große Strafkammer zuständig.
§ 15. Soweit die Vorschriften des Gesetzes und seiner Ausführungsverordnungen sich auf deutsche Staatsangehörige beziehen, sind sie auch auf Staatenlose anzuwenden, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inlande haben. Staatenlose, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Auslande haben, fallen nur dann unter diese Vorschriften, wenn sie früher die deutsche Staatsangehörigkeit besessen haben.
§ 16. 1) Der Führer und Reichskanzler kann Befreiungen von den Vorschriften des Gesetzes und der Ausführungsverordnungen erteilen [SIC!]. 2) Die Strafverfolgung eines fremden Staatsangehörigen bedarf der Zustimmung der Reichsminister der Justiz und des Inneren.
§ 17. Die Verordnungen tritt an dem auf die Verkündung folgenden tage in Kraft. Den Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 7 bestimmt der Reichsminister des Innern; bis zu diesem Zeitpunkt ist ein Ehetauglichkeitszeugnis nur in Zweifelsfällen vorzulegen.
Berlin, den 14. November 1935.
Der Führer und Reichskanzler, Adolf Hitler
Der Reichsminister des Innern, [Wilhelm] Frick
Der Stellvertreter des Führers, R[udolf] Heß, Reichsminister ohne Geschäftsbereich
Der Reichsminister der Justiz, Dr. [Franz] Gürtner
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(Vorbemerkung und Transkription von Patrick Charell)