Europäische Rabbinerkonferenz weiht neue Zentrale in München ein. Interview von Andrea Schlaier mit Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt zu einem Umzug von historischer Bedeutung. In: Süddeutsche Zeitung Online (18. September 2023).
Vorbemerkung
Die Europäische Rabbinerkonferenz (engl. Conference of European Rabbis, CER) wurde 1956 in Großbritannien gegründet, um die jüdischen Kultusgemeinden auf dem europäischen Festland nach dem Holocaust neu zu beleben. Sie vertritt heute nach eigenen Angaben rund 1000 Mitglieder, darunter mehr als 700 Rabbiner von Dublin bis Wladiwostok. Der überwiegend konservativ-orthodoxe Zusammenschluss unterstützt mit mehreren untergeordneten Organisationen die Rabbinerausbildung und den inneren Zusammenhalt der Kultusgemeinden, er gewährleistet Rechtsberatung und religiöse Unterweisung, kümmert sich um europaweit gültige Standards für koschere Lebensmittel und Ritualbäder, engagiert sich aber auch für Religionsfreiheit sowie den interkulturellen und unterreligiösen Dialog mit Muslimen und Christen.
Nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU im Jahr 2021 ("Brexit") wurde die Europäische Rabbinerkonferenz vom bayerischen Ministerpräsidenten dazu eingeladen, ihren Sitz von London in die bayerische Landeshauptstadt München zu verlegen. Trotz oder gerade wegen der belasteten Geschichte als Wiege des Nationalsozialismus und "Hauptstadt der Bewegung" nahm die Rabbinerkonferenz diese Einladung an. Im Mai 2022 fand im Prinz-Ludwig-Palais an der Türkenstraße die erste Generalversammlung der CER in München statt, am 19. September wurde die neue zentrale offiziell eingeweiht. Durch die CER und ihr gleichzeitig eröffnetes "Zentrum für jüdisches Leben", die Ohel-Jakob-Synagoge und das jüdische Kulturzentrum im Herzen der Altstadt hat sich Bayern zu einem neuen Kristallisationspunkt für jüdisches Leben in Europa entwickelt. Oberrabiner Pinchas Goldschmidt betont: "Wir sind hier, um zu bleiben".
Quellentext
Der Flieger aus Jerusalem ist kaum in München gelandet, da jagt ein Termin den anderen. Pinchas Goldschmidt ist inzwischen auch in München ein gefragter Mann. An diesem Dienstagabend weiht er den von London nach München verlegten Hauptsitz der Konferenz der Europäischen Rabbiner (CER) an der Türkenstraße ein und eröffnet hier auch das neu gegründete "Zentrum für jüdisches Leben". Der CER-Vorsitzende ist in Zürich geboren und war von 1989 an Oberrabbiner der jüdischen Gemeinde von Moskau. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist er im Frühjahr 2022 nach Israel ausgereist, wo der 60-Jährige seither lebt.
SZ: Herr Goldschmidt, als die Generalversammlung der Europäischen Rabbinerkonferenz im Mai 2022 erstmals in München stattgefunden hat, sprachen Sie von einem historischen Ereignis. Sie trafen sich in der Stadt, in der 1938 die Pogromnacht geplant und ausgerufen wurde. Ministerpräsident Markus Söder hat die Rabbinerkonferenz bei der Gelegenheit eingeladen, ihren Hauptsitz von London nach München zu verlegen. Warum haben Sie das Angebot angenommen?
Pinchas Goldschmidt: Zum einen, weil sich das Zentrum Europas verschoben hat. Heute wird Europa von den beiden größten Ländern geführt, Frankreich und Deutschland. In Deutschland wächst die jüdische Gemeinde und München beherbergt eine der größten Gemeinden Deutschlands mit einer großen Infrastruktur. Das sind perfekte Bedingungen. Zum anderen ist dieser Schritt historisch. Die Hoffnung und Zuversicht triumphieren über die Geschichte. Unser Umzug nach München ist auch eine Botschaft an all die dunklen Kräfte, die es heute gibt und die glauben, dass sie das jüdische Volk zerstören könnten. Wir sind hier, um zu bleiben. Es ist schon einmalig, dass eine jüdische Organisation von einer Regierung eingeladen wird, sich anzusiedeln. Das hat großen Vorbildcharakter und hierfür sind wir sehr dankbar.
Welche Rolle spielen dabei Sicherheitsfragen und die finanzielle Unterstützung Bayerns, das die Mittel für die Israelitischen Kultusgemeinden im Freistaat rückwirkend für das Jahr 2021 um ein Drittel erhöht hat?
Wir fühlen uns in München sehr sicher und sind der bayerischen Polizei und den Sicherheitsbehörden sehr dankbar für ihre Unterstützung und die gute Zusammenarbeit. Das gleiche gilt für die bayerische Staatsregierung, die das Zentrum für Jüdisches Leben politisch und finanziell großartig unterstützt.
Was ist die Aufgabe des "Zentrum für jüdisches Leben"?
Hier wird die CER künftig von München aus für Rabbiner und Rabbinerfrauen, also den Rebbetzin, aus ganz Europa ein umfassendes Bildungsangebot für halachische und rabbinische Fragen sowie zur Aus- und Weiterbildung im jüdischen Recht anbieten und internationale Konferenzen zu aktuellen das Judentum betreffende Fragen ausrichten. Genauso wird es Angebote zur Aus- und Weiterbildung über jüdisches Leben für die Bevölkerung geben.
Wie sieht die jüdische Community aus, die Sie in München antreffen?
Heute ist Bayern und seine Landeshauptstadt wieder Heimat für Tausende Jüdinnen und Juden, die nach der Shoah ein lebendiges und weiter prosperierendes Gemeindeleben aufgebaut haben und es hierzulande sicher praktizieren können. München hat sich dabei unter anderem mit dem Bau der Ohel-Jakob-Synagoge, dem Gemeindezentrum und als regelmäßiger Tagungsstandort jüdischer Organisationen und zuletzt als Anlaufstation jüdischer Kriegsflüchtlinge aus Russland und der Ukraine zu einem neuen Kristallisationspunkt für jüdisches Leben in Europa entwickelt und unter der großartigen Führung von Charlotte Knobloch das Judentum ins Herz der Stadt München zurückkehren lassen.
Welchen Platz hat das jüdische Leben Ihrer Einschätzung nach in der Stadtgesellschaft?
In München spüre ich Offenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber jüdischem Leben, mehr als in anderen Städten Europas. Man merkt, dass vor allem die bayerische Politik erkannt hat, dass eine lebendige jüdische Gemeinde nicht nur für das jüdische Volk selbst gut ist, sondern auch für die Gemeinschaft insgesamt. Sie ist eine Quelle des kulturellen Reichtums, der intellektuellen Vielfalt und der moralischen Stärke. Dennoch wäre es schön, wenn wir noch mehr Berührungspunkte hätten und Juden und Nichtjuden mehr übereinander erfahren.
97 Fälle antisemitischer Hasskriminalität hat die Münchner Polizei 2022 registriert. Fast 20 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Wie will die CER inhaltlich der wachsenden Radikalisierung in Politik und Gesellschaft entgegenwirken?
Auch wenn etwa glücklicherweise Kinder und Jugendliche in der Schule oder Polizisten in Sachen Antisemitismus zunehmend sensibilisiert werden, ist noch einiges zu tun. Mit unserem neuen Zentrum für jüdisches Leben wollen wir aktiv daran mitarbeiten und unter anderem Rabbiner auch vermehrt in Schulen, Betriebe und auch Redaktionen schicken, um im Dialog mehr voneinander zu lernen und Vorurteile abzubauen, aber auch all die positiven Beiträge des Judentums in seiner über 1700-jährigen Geschichte in Deutschland stärker herauszuarbeiten. Es braucht einfach viel mehr Austausch ohne Berührungsängste.
Im neuen Hauptsitz der Europäischen Rabbinerkonferenz wird nur eine kleine Verwaltungsgruppe einziehen. Trifft man Sie selbst dort auch regelmäßig an?
Ja, wir sind ab Dienstag voll arbeitsbereit. Wir werden dort nicht jüdisches Leben verwalten, sondern aktiv gestalten.
Sie selbst nehmen zum Wintersemester einen Lehrauftrag an der TU München auf. Worum geht es?
Ich freue mich auf meine Lehrtätigkeit an der Hochschule für Politik der TU München, wo ich als Gastprofessor Vorträge und Seminare zu ethischen Fragestellungen und dem Verhältnis von Religion und Politik halten werde. Ich freue mich aber auch deshalb auf den Umzug, weil ich gerne Ski fahre und die Berge mag. Da kann London nicht mithalten.
(Andrea Schlaier, Süddeutsche Zeitung | Vorbemerkung von Patrick Charell)