Rabbiner Meïr ben Baruch (von/aus Rothenburg) zählt zu den bedeutendsten Gelehrten des aschkenasischen Judentums im 13. Jahrhundert. Er war einer der letzten Tossafisten (Verfasser scholastischer Talmudkommentare). Seine erhaltene Responsensammlung mit über 1000 Rechtsgutachten ist die größte ihrer Art in Aschkenas. Im 14. und 15. Jahrhundert wird Rabbiner Meïr häufiger zitiert als jeder andere Schriftgelehrte. Als sich die Politik des römisch-deutschen Königs Rudolf I. zunehmend gegen die Juden richtete und Tausende außer Landes flohen, wurde auch Meïr ben Baruch als Rädelsführer ergriffen und bis zum Rest seines Lebens inhaftiert. Erst 1307 fanden seine sterblichen Überreste in Worms ihre letzte Ruhe.
Meïr wurde um 1220 in eine Familie von Toragelehrten in Worm geboren. Sein Vater, der Rabbiner Baruch, war selbst ein bedeutender Gelehrter und zugleich Meïrs erster Lehrer. Nachdem er seinen Ruf begründet hatte, erwies ihm auch sein Vater offene Anerkennung und stellte ihm halachische Anfragen. Eine von Rabbiner Ascher ben Jechiel, Meirs hervorragendstem Schüler überlieferte Anekdote veranschaulicht das bemerkenswerte Verhältnis zwischen Vater und Sohn: Meir fürchtete, dass sein Vater vor ihm, seinem Sohn, wie vor einem anderen großen Gelehrten ehrfurchtsvoll aufstehen würde. Diese Ehrenbezeugung schuldete üblicherweise auch der Sohn dem Vater, und um diese Situation zu vermeiden, zog es Meir ben Baruch vor seinen Vater überhaupt nicht mehr persönlich zu treffen. In dieser Anekdote und seinen weiteren Schriften zeigt sich eine für die aschkenasischen Chassidim typische pietistische Haltung (einer Bewegung, die von Jehuda ben Samuel in Regensburg begründet wurde). In seiner Jugend studierte Meïr unter anderem in Würzburg bei Rabbiner Isaak ben Mosche von Wien, dem Verfasser des halachischen Werks "Or Zarua" (Das Licht ist gesät, nach Psalm 97:11). Sein zweiter Lehrer war ein Verwandter, Jehuda ben Mose ha-Kohen aus Friedberg (Hessen).
Wie viele seiner Zeitgenossen studierte auch Meïr an Talmudschulen der großen Tossafisten in Frankreich: Er lernte bei Esra von Moncontour, Jechiel von Paris, Samuel von Falaise und Samuel von Evreux, damals in Château Thierry. Das Goldene Zeitalter des mittelalterlichen Judentums in Frankreich endete 1242 unter der Herrschaft Ludwigs IX, genannt "der Heilige" (reg. 1226-1270). Nach einem offiziellen Disput christlicher und jüdischer Gelehrte vor dem König ließ dieser Dutzende von Wagenladungen mit talmudischen Schriften verbrennen, der Schwerpunkt jüdischer Gelehrsamkeit verlagerte sich nach Süd- und Mitteldeutschland. Meïr ben Baruch beschrieb dieses Ereignis mit seinem Klagelied "Rührt dich, flammenentloderte Tora, nicht?". Bis heute gehört es zur Liturgie des 9. Av, des Trauertages zum Andenken an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Kurz danach ließ sich Rabbiner Meïr ben Baruch in Rothenburg nieder, woher er seinen Zunamen erhielt.
"Meïr von Rothenburg" bezog an der Judengasse ein großes Haus und richtete am heutigen Kapellenplatz eine Jeschiwa neben der Synagoge ein. Die 24 Zimmer des Hauses dienten hauptsächlich als Unterkunft seiner Schüler. Meïr ben Baruch galt als intellektuelle Autorität und höchste richterliche Instanz der Juden im Reich. Von überall her erreichten ihn Anfragen, auch aus Italien, Frankreich und Spanien. Seine erhaltene Responsen-Sammlung mit über 1000 Rechtsgutachten ist die größte ihrer Art in Aschkenas. Daher stand Meïr ben Baruch oft unter spürbarem Zeitdruck, er antwortete auch vom Krankenbett aus oder kurz vor Festtagen. Wer in seinen Anfragen zu weitschweifig formulierte, bekam eine Rüge. Andererseits musste es Rabbiner Meïr ablehnen, private Streitigkeiten zu schlichten. Außerdem wollte er die Autorität lokaler Gerichte nicht untergraben. In einer lateinischen Urkunde wird er mit dem Beinamen "supremus Magister" (lat. Oberster/Höchster Lehrer) bezeichnet. Dies weist zwar kaum auf ein offizielles, vom römisch-deutschen Herrscher verliehenes Amt hin, doch wird zumindest seine allgemein anerkannte Prominenz unter den Gelehrten des Reiches offenkundig. Im Jahr 1272 war Meïr noch in Rothenburg nachweisbar. Nach dem Tod seines Vaters (entweder 1276 oder 1281) kehrte er jedoch nach Worms zurück, wo sein Vater begraben wurde, und verlegte auch seine Hochschule dorthin.
In den 1380er Jahren begann sich die Lage der aschkenasischen Juden zu verschlechtern. Es häuften sich die alten Ritualmordanklagen, und König Rudolf I. von Habsburg (reg. 1273-1291) belastete die Juden im Jahr 1284 mit besonders hohen Steuern. Daher flüchteten tausende Juden auf illegalem Weg aus dem Reich. Rudolf I. befahl die Beschlagnahmung der geflüchteten Familien. Damit setzte er den 1236 verliehenen Status der Juden als "servi camerae", als Diener (sprich: Eigentum) der kaiserlichen Finanzkammer wortwörtlich um. Was ihnen zuvor ein fragiler Schutz vor dem Zugriff lokaler Begehrlichkeiten gewesen, war nun die Rechtfertigung einer gnadenlosen Verfolgung. Unter den Flüchtlingen befand sich auch Rabbiner Meïr ben Baruch mit seiner Familie. Am 26. Juni 1286 wurde Meïr von einem getauften Juden in den lombardischen Alpen erkannt und an den Grafen Meinhart II. von Görz-Tirol ausgeliefert. Anhand der Reiseroute und der Bezeichnung "ultra mare" lässt sich erschließen, dass Venedig das Ziel der Flüchtenden war, von wo aus sie nach Palästina übersetzen wollten. Dies stand im Widerspruch zur bislang vorherrschenden Tendenz im Aschkenas, es stimmte jedoch mit Rabbi Meïrs persönlicher Haltung zur Rückkehr ins Heilige Land überein. Möglicherweise hatte er die Fluchtbewegung maßgeblich geplant oder zumindest mit angestoßen.
Meïr ben Baruch wurde an den König ausgeliefert, der ihn auf der Festung Ensisheim im Elsass einkerkern ließ. Für 2000 Mark Silber hätten Vertreter der königlichen Schutzjuden seine Freiheit erkauft, doch angesichts dieser astronomischen Zahl verweigerte Meïr selbst den Handel, weil er immer neue Forderungen des Habsburgers fürchtete. Später wurde er nach Wasserburg am Inn verbracht, wo die Haftbedingungen besser und Besuche möglich waren. Verhandlungen für ein Lösegeld gediehen soweit, dass sich Rabbiner Ascher ben Jechiel, ein ehemaliger Schüler, als Bürge zur Verfügung stellte. Dann jedoch starb Meïr ben Baruch am 27. April 1293 in seiner Zelle. Auch für die sterblichen Überreste des großen Lehrmeisters wurde nun ein hohes Lösegeld verlangt, das erst Jahre später der wohlhabende Jude Alexander (Süßkind) ben Shlomo Wimpfen aufbringen konnte. Meïr von Rothenburg wurde am 7. Februar 1307 auf dem jüdischen Friedhof zu Worms beerdigt, an seiner Seite ruht bis heute auch Süßkind Wimpfen.
Im 14./15. Jahrhundert wird Rabbiner Meïr von Rothenburg häufiger zitiert als jeder andere Schriftgelehrte in Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich. Neben seinen persönlichen Vorzügen gibt es dafür noch drei weitere Gründe: Zum einen seine vielen Schüler, die mit großem Fleiß seine zahlreichen Responsen gesammelt hatten, zum anderen die Tatsache, dass er die letzte maßgebende Persönlichkeit unter den Tossafisten war; zum dritten der Niedergang der jüdischen Gelehrsamkeit im Reich des 14. Jahrhunderts infolge von Vertreibungen und zunehmenden Pogromen. Sein Werk ist noch lange nicht vollständig erforscht, zumal soweit bekannt keine einzige seiner Schriften vollständig erhalten ist. Sein literarischer Nachlass ist voll und ganz das Werk seiner Schüler und daher in vielen Sammelbänden oft sehr unterschiedlich. Außerdem werden zahlreiche seiner Responsen, halachischen Entscheidungen und Bräuche in den Werken seiner Schüler zitiert, vor allem im "Hagahot maimonjot" (Halachische Auslegungen) von Rabbiner Meïr ha-Kohen, dem "Sefer ha-Mordechai" (Buch des Mordechai) von Rabbiner Mordechai ben Hillel, "Sefer ha-Taschbez" (Buch des Gewands) von Rabbiner Samson ben Zadok und dem "Sefer ha-Parnas" (Buch des Vorstehers) von Rabbiner Moses von Rothenburg. Seine Schüler verfassten auch eine Anzahl Sammlungen von Bräuchen aus seiner Jeschiwa: Meïr ben Baruch nahm Teil an der Kompilation der Tossafot, zudem verfasste er Pijutim (liturgische Dichtungen) und Klagelieder. Durch seine Schüler und sein Wirken beeinflusste Meïr ben Baruch den Geist und das Leben der aschkenasischen Juden im ausgehenden Mittelalter. In Rothenburg ob der Tauber wurde eine Freifläche am ehemaligen jüdischen Tanzhaus (Georgengasse 17) in "Rabbi-Meir-Garten" umbenannt, und am Kapellenplatz erinnert eine Gedenktafel an den großen Gelehrten.
Aus: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.) / Manfred Treml / Wolf Weigand: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, Bd. 2: Lebensläufe. München 1988 (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 18), S. 21-24.
(Israel Jacob Yuval | bearb. Patrick Charell)
Bilder
Literatur
- Israel Jacob Yuval: Meir ben Baruch aus Rothenburg (um 1220-1293), "supremus Magister". In: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.) / Manfred Treml / Wolf Weigand: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, Bd. 2: Lebensläufe. München 1988 (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 18), S. 21-24.
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Quellen
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