Flugschrift der Ortsgruppe München des Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. München (G. Heller) 1919. Landesbildstelle Nordbayern, Bayreuth / Haus der Bayerischen Geschichte.
Vorbemerkung
Der "Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" wurde 1893 in Berlin gegründet, als Reaktion auf den aufkeimenden, salonfähigen Antisemitismus breiter bürgerlicher und akademischer Schichten. Der Vereinszweck bestand in der Durchsetzung der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung und, als Ausdruck der jüdischen Selbstbehauptung, in der Abwehr des Antisemitismus. Die Mitglieder sahen sich jedoch auch als deutsche Patrioten und bekämpften den Zionismus als politische Bewegung.
Die prominente Rolle jüdischer Figuren in der linken Revolution und der Bayerischen Räterepublik von 1918/19 darf nicht überraschen: Wenn zu Beginn der Weimarer Republik die Sozialdemokratie, liberale und linke Parteien erkennbar mehr Menschen jüdischer Herkunft anzogen als nationale oder rechte Gruppierungen, so lag dies schlichtweg daran, dass nur die Erstgenannten jüdische Mitglieder vollständig akzeptierten.
Das heißt jedoch nicht, dass die jüdische Gemeinschaft in ihrer Breite besonders revolutionär oder sozialistisch eingestellt war. Im Gegenteil: Die meisten bayerischen Jüdinnen und Juden distanzierten sich vom "linken Experiment".
Der Centralverein weist auf die Widersprüchlichkeit der Vorwürfe hin. Die weitere Entwicklung hat allerdings gezeigt, dass antisemitische Stimmen - unbeeindruckt von allen rationalen Argumenten - unter anderem den haltlosen Vorwurf einer "Jüdischen Weltverschwörung" von rechts und links (Kapitalismus und Bolschewismus) konsequent aufrecht erhielten. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurde der Verein zwangsweise aufgelöst.
Quellentext
Die Juden
sollen an Allem schuld sein,
so tönt es heute aus hinterhältig verbreiteten Flugblättern,
so reden es verhetzte Leute auf der Straße nach.
Wir Juden sollen schuld sein, daß der Krieg kam, aber in der Regierung und Diplomatie, in der Rüstungsindustrie und im Generalstab saßen keine Juden.
Wir sollen auch schuld sein, dass der Krieg vorzeitig abgebrochen wurde.
Wir sollen schuld sein an allen Übeln des Kapitalismus und zugleich an den Leiden der Revolution, die diese Übel beseitigen will.
Was ein paar Führer jüdischer Herkunft gewirkt haben zum Guten und zum Bösen, haben sie selbst zu verantworten,
nicht die jüdische Gesamtheit.
Wir lehnen es ab, die Sündenböcke abzugeben für alle Schlechtigkeit der Welt.
Wir fordern unser Recht, wie bisher friedlich weiter zu arbeiten in unserem deutschen Vaterland, mit dessen Gedeihen in Zeiten der Macht wie der Niederlage auch unser Wohl unauflöslich verbunden ist.
Die Ortsgruppe München des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens.
(Vorbemerkung von Patrick Charell)