Jüdisches Leben
in Bayern

1933-41: Tagebuch von Elisabeth Block

Tagebücher der Elisabeth Block aus Niedernburg bei Rosenheim, 1933-1942 (Sechs Bände). Stadtarchiv Rosenheim, NL 372. Aus: Erinnerungszeichen. Die Tagebücher der Elisabeth Block. Hg. v. Peter Miesbeck (Historischer Verein Rosenheim) u. Manfred Treml (Haus der Bayerischen Geschichte). Augsburg 1993 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Stadt und des Landkreises Rosenheim 12), S. 54-266.

Vorbemerkung

Elisabeth "Lisi" Block wuchs nahe Rosenheim in der Gärtnerei ihrer Eltern auf und erlebte eine harmonische Kindheit. Obwohl ihre Familie jüdisch war, spielte dies im Alltag keine Rolle: Im Hause Block feierte man die christlichen Festtage und lebte ansonsten säkular. Seit ihrem zehnten Lebensjahr führte Elisabeth ein Tagebuch, innerhalb von neun Jahren wurden es sechs Bände. Nach der NS-Machtübernahme schrieb sie zunächst mit naiver Fröhlichkeit über die Propagandaveranstaltungen der Nationalsozialisten. Nach dem Novemberpogrom 1938 werden die zunehmenden Einschränkungen – oft zwischen den Zeilen – zu einem dominierenden Thema: Zwangsmaßnahmen, Arbeitsdienst, der Überfall auf Polen und Frankreich und Rationierungen.

Am 15. November 1938 wurde das Schulverbot für jüdische Kinder verkündet, Elisabeth Block musste ihre Schule verlassen. Im selben Jahr verlor ihr Vater Fritz Block seine Gärtnerei durch die "Arisierung". Während er zum harten "Arbeitsdienst" an der Reichsbahn zwangsverpflichtet wurde, mussten Elisabeth und ihre jüngere Schwester auf auf benachbarten Bauernhöfen arbeiten. Die geliebten Bergwanderungen und Ausflüge wurden verboten. Das Tragen des Gelben Sterns belastete sie und vor allem ihren kriegsversehrten Vater. Trotz allem blieb der Ton stets heiter, Elisabeth erwähnt hauptsächlich Besuche bei Freundinnen, Familienfeiern oder den allgemeinen Tagesablauf. Im März 1942 bricht ihr Tagebuch unvermittelt ab: Die Familie Block wurde in ein Sammellager bei Milbertshofen/München verschleppt und von dort nach Polen in das Ghetto Piaski deportiert. Niemand überlebte.

Elisabeth Blocks Tagebücher blieben in Niedernburg, wo sie Nachbarn aufbewahrten. Nach 1945 gelangten sie zu Verwandten nach Palästina, später nach Großbritannien und zuletzt in das Stadtarchiv Rosenheim. Im Rahmen von Nachforschungen für die Landesausstellung "Geschichte und Kultur der Juden in Bayern" 1988/89 wurde der Historiker Prof. Manfred Treml auf die Tagebücher von Elisabeth Block aufmerksam. Diese wertvollen historischen Zeitdokumente, ergänzt durch Gedichte, Fotografien und Briefe, stellte er 1993 zusammen mit Dr. Peter Miesbeck in der Publikationsreihe des Stadtarchivs Rosenheim der Öffentlichkeit vor.

Quellentext

17. November 1938. Nun ist das von Mutti schon so lang Geahnte geschehen: ich und auch Trudi und Arno [die jüngeren Geschwister] dürfen nicht mehr zur Schule gehen. Mit furchtbar schweren Herzen trenne ich mich von meinen lieben Mitschülerinnen. Mein Stundenplan: ½ 7 Uhr aufstehen, nach dem Frühstück Betten machen, gegen 8 Uhr in Papas Zimmer zur Schule antreten, die bis 10 Uhr dauert. Wir haben Deutsch, Rechnen, Erdkunde, Geschichte, Zeichnen und Geometrie. Dienstags und freitags von 1 Uhr bis 3 ¼ Uhr mit Mutti Englisch und Stenographie. Dazwischen von 10 Uhr bis 1 Uhr kochen und abspülen. Nachmittags umgraben, Hausarbeiten usw. Montags bei der Wäsche Kathi helfen, das sehr lustig ist, da wir in den Stall eine schöne, geräumige Waschküche eingebaut bekommen haben. Abends wird aus "Gabriele von Bülows Töchtern" und "Ein Künstlerleben" von F. Wasmannn vorgelesen und dabei gehandarbeitet. Ich bin nun durch diese Zeiteinteilung und die Vorbereitung für Weihnachten vollauf beschäftigt und fühle mich wieder genauso zufrieden wie zuvor, als ich zur Schule ging.

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Am 7. Februar [1939] begaben sich Mutti, Trudi, Arno und ich an den Bahnhof, wo wir die ganze Block‘sche Familie zwei Minuten sprachen, bei ihrer Durchreise nach Palästina. [Die Verwandten väterlicherseits aus Hannover: Hans Block mit seiner Frau Gertrud sowie den Kindern Pauline, Walter, Hanna und Ruth].

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28. [August 1939]. Wegen der polit[isch] gespannten Lage zwischen Deutsch[land] und Pol[en] entschlossen Tante Helme [Frensdorff] und ich uns sehr rasch, dass das Beste meine sofortige Abfahrt [aus Berlin] wäre. Wir sprachen schnell noch einmal bei Bennos vor und ich fuhr in zweiter Klasse um 12.10 mittags los. Ich hatte sehr großes Glück, da ich mit einer reizenden Dame aus Ber[lin] zusammen saß, die mich die ganze Zeit aufs Interessanteste über ihre Reisen aus Afrika, Jugoslawien, Mexiko per Flugzeug und Schiff unterhielt und sich überhaupt aufs Netteste für mich interessierte und mich sogar einlud, sie bei Gelegenheit in [Berlin-]Dahlem zu besuchen. In Mü[nchen] nahm ich mir eine Taxe und fuhr zu B[locks], wo ich übernachtete.

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Erster [Weihnachts-]Feiertag 1939. [Zeichnung: Christbaum] Den erste[n] Feiertag benützte ich, um mich auf mein spannendes Buch zu werfen und es zu verschlingen, dabei ließ ich mich nur stören durch einen kleinen Besuch mit Mutti bei Kathi, wo es recht lustig zuging. Herr Bauer, Paulas Mann, war nämlich auf Urlaub über Weihnachten da vom Militär an der Westfront. Das kleine Buali war wieder zu nett.

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20. April [1940]. Bekamen heute fast plötzlich die unerwartete Nachricht von Tante Helme, dass sie schon auf der Fahrt nach Buenos A[ihres] seien. Den Abschied hat sie uns und ihr erspart. Wenn wir nur auch schon so weit wären, aber für morgen haben wir erst mal eine Wanderung zu Fuß geplant.

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Montag, 27. Mai [1940], fuhr Papa nach Kempten [im] Allgäu, wohin er vom Arbeitsamt geschickt wurde. [Anmerkung: Das Arbeitsamt Rosenheim hatte an das Landesarbeitsamt bis zum 27. April 1940 alle "volleinsatzfähigen Juden für Gleisbauarbeiten" zu melden. Insgesamt wurden im Bezirk des Arbeitsamtes sechs männliche Juden erfasst. StAM, Arbeitsämter 1246].

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Vom 13. bis 16. Juni [1940] war ich zu Gusti nach Obing eingeladen, was sehr reizend war, nur leider durch meine Fußverletzung (Gabelstich) am Tag zuvor sich meistenteils auf dem Sofa abspielte. Ganz besonders nett war, dass Liesel Samstagabend von Aibling kam und ich dann mit ihr zusammen Sonntag abends heimfuhr. Wohin ich auch wieder gern fuhr, da die ewige Politisiererei von Liesels Patin und auch die unaufhörlichen Nachrichten vom Radio mir ganz ungewohnt sind. Im Zug hört man fast nichts als von dem Unwetter und seinen Schäden und sieht auch überall noch Folgen davon.

Hier zu Hause bin ich kolossal erstaunt über die riesigen Fortschritte, die inzwischen der Garten durch den vielen Regen gemacht hat. Mir kommt vor, ich hätte ihn schon mehrere Wochen nicht mehr gesehen. Mutti steckt schon tief in der Erdbeerernte drin, da ja unsre Hausleute nichts davon verstehen. Von Papa haben wir gute Nachrichten, aber vom Ausland erklärlicherweise keinen Ton. Die polit[ischen] Ereignisse sind von Tag zu tag kolossaler. [Anmerkung: Nur mit dieser äußerst knappen Formulierungen deutet Elisabeth nochmals die letztlich vergeblichen Bemühungen um eine Auswanderung nach Venezuela an. Am 10. Mai hatte die deutsche offensive im Westen gegen Frankreich begonnen, deren erste Phase am 4. Juni mit der Einnahme von Dünkirchen endete; am 10. Juni trat Italien in den Krieg ein; bis zum 22. Juni wurde Paris eingenommen]

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Sonntag, 30. Juni 1940. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich freute, als mir Mutti Morgen erzählte, dass Papa gestern Abend noch gekommen sei. Das war eine wunderbare Überraschung. Er erzählte viel von seinem Arbeiterleben, wo er recht zufrieden mit allem ist, obwohl von 6 Uhr früh bis 7 Uhr abends gearbeitet wird [!]. Er brachte uns auch Bilder mit, die er in der Freizeit gemalt hat. Gegen 4 Uhr musste er schon wieder wegfahren. Mir geht es G[ott] s[ei] D[ank] mit jedem Tag besser, aber es muss schon ziemlich weit gefehlt haben und ich bin auch viel schmäler geworden. Bis der Fuß verheilt ist, immer noch Ruhe!

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Sonntag, 26. Januar 1941. […] Dann schicken wir auch jede Woche ein Päckchen mit Lebensmittel und alten, abgetragenen Sachen an Annchen L[ewvy], einer Cousine von Mutti, die noch immer in Polen sind mit keinem Pfennig Geld. An Muttis alten Onkel Arthur [Packscher] schicken wir auch ziemlich regelmäßig etwas Lebensmittel, ebenso an eine andere Berlinerin, ab und zu bekommt Onkel Benno [Packscher] ein Päckchen und Gertrud [Michelsohn], ebenso Tante Lottchen und O[nkel] Paul [Levy], hauptsächlich Gemüse. In den Städten muss es schon sehr mager zugehen! Wir kommen sehr gut aus mit unseren mengen und können dadurch immer noch was wegschicken.

Es gibt jetzt pro Person 1 Pfund Fleisch und Wurst, circa 1 Pfund Zucker, 1/8 Pfund Teigwaren, 1/8 Pfund Käse, 100 Gramm gries usw., 12,5 Gramm Puddingpulver, 25 Gramm Butterschmalz, 1/3 [?] Pfund Margarine mit Öl, 35 Gramm Schweineschmalz, ¼ Pfund Butter (Kinder bis 14 Jahre etwas mehr und 50 Gramm Marmel[ade], etwas Kakaopulver und Kunsthonig, ¼ Liter Vollmilch), bis 18 Jahre im Monat im Winter 1 Kilogramm Äpfel, Erwachsene 60 Gramm Bohnenkaffee und etwas Tee. Etwas Reis und Hülsenfrüchte, circa 5 Pfund Brot, Kinder etwas mehr. Dann noch pro Person im Monat ein Stück Seife (Einheitsfeinseife) und ½ Pfund Waschpulver. Da wir Eier und Milch haben, geht es so recht gut.

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Sonntag, 27. April 1941. Diese Woche haben wir leider eine sehr große Enttäuschung erlitten: Trotzdem wir schon die Einreise nach Argentinien hatten, verweigert uns der Konsul hier das Visum, so dass wieder einmal alles Essig ist und wir erstmal sehen müssen, was Onkel Erich drüben erreichen kann. Man kann sich denken, wie enttäuscht wir alle sind! Aber die Hoffnung braucht man ja deswegen nicht aufzugeben. [Anmerkung: Spätestens ab dem 1. Oktober 1941 wurde insgeheim die Auswanderung von Juden generell verhindert, nachdem die "Endlösung" durch Deportation und Ermordung von NS-Größen auf der geheimen Wannseekonferenz beschlossen worden war.]

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Sonntag, 21. September 1941. Beinahe die ganze Woche hatten wir herrliches Herbstwetter; morgens zwar ziemlich kalt und dicker Nebel, aber schon im Lauf des Vormittags kommt die Sonne durch und mit ihr Wärme und strahlend blauer Himmel. Nun sind wir endlich mit unserem Grummet (Heu) fertig und können uns nun ganz dem Getreidebau und dem Dreschen widmen. Diese Woche haben Regerl und ich oft Mist bereitet und die beim Eggen zurückgebliebenen Erdklumpen mit einer Schaufel "tot" geschlagen. Mehrmals wurde auch gedroschen; da bin ich meistens auf der Maschine und muss die Bündel aufschneiden, während Regerl [Regina Hochstetter] sie mir zuwirft und ihr Onkel sie in den Zylinder lässt. Einen ganzen Nachmittag hatten wir dann mit dem "Putzen" von den Weizenkörnern zu tun, die gleich fort gebracht wurden, da es lauter Saatgut ist. Von vier Zentnern Saatgut wurden circa achtzig Zentner geerntet dies‘ Jahr, ein Ertrag, der schon seit Jahren nicht mehr verzeichnet werden konnte.

Heute nun ist wieder Ruhetag, an dem man richtig faul sein kann. Leider können wir nun gar nicht mehr fortfahren und in unsre geliebten [Berge] wandern: Es ist uns Juden seit 19. September verboten, ohne Erlaubnis außerhalb unseres Polizeigebietes zu gehen und außerdem müssen wir jetzt alle einen riesigen gelben Davidstern, mit Jude in der Mitte, angenäht in der Öffentlichkeit tragen, was allerhand Schwierigkeiten mit sich bringt, sowohl beim Einkaufen in den Geschäften, wie auch sonst, und besonders auch für Papa. Man kann sich denken, dass die Stimmung ziemlich schlecht ist ob solch einer Gehässigkeit und Boshaftigkeit, denn weiter ist es doch nichts, als pure Boshaft. Endlich wird doch wieder eine andere, bessere Zeit für uns kommen, man hofft eben von Jahr zu Jahr und vergleicht immer wieder mit der Zeit von Napoleon. 

(Vorbemerkung und Edition nach Manfred Treml)