Eidesstattliche Erklärung des ehem. SS-Hauptsturmführers Luitpold Schallermeier. Zitiert nach: Wolf Volker Weigand: Bayern in der NS-Zeit 1933-1945), Dok. 11. In: Geschichte des modernen Bayern. Königreich und Freistaat. Hg. v. Manfred Treml f. d. Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München. 3. neu bearb. Auflage. München 2006, S. 381f.
Vorbemerkung
Das Novemberpogrom – veraltet, weil der offiziellen NS-Sprache folgend auch Kristallnacht oder Reichspogromnacht genannt – war eine staatlich organisierte, deutschlandweite Verfolgungswelle gegen die jüdischen Mitbürger in der Nacht auf den 10. November 1938 und den folgenden Tagen. Wegen der simultan stattfindenden Gewaltakte wird der Begriff zumeist im Plural verwendet.
Der 9. November spielte in der Ideologie der NSDAP als "Gedenktag [für die Gefallenen] der Bewegung" (der gescheiterte Luddendorf-Hitler-Putsch 1923 in München) eine große symbolische Rolle. Ein vorgeschobenes Motiv war die "Rache für den Mord an Rath": Ernst Eduard vom Rath, Sekretär der deutschen Botschaft in Paris, wurde am 7. November durch den polnischen Jude Herschel Grynszpan mit fünf Schüssen tödlich verwundet, um seinerseits Rache für die aus Deutschland nach Polen deportierten Verwandten zu nehmen (sog. Polenaktion am 28./29. Oktober 1938).
In die gleiche Kerbe hieb Propagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) während des "Kameradschaftsabends" der NSDAP, der am Abend des 9. November im Alten Rathaus von München abgehalten wurde. Goebbels gab dem "Weltjudentum" die Schuld am Tod des deutschen Diplomaten und billigte ausdrücklich Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung: "Die Partei hat solche Aktionen zwar nicht zu organisieren, aber sie dort, wo sie spontan entstehen, nicht zu verhindern". Seine Ansprache gilt als Initial der Novemberpogrome von 1938.
Die Zerstörung der Synagogen, die Gewalt und Plünderungen waren jedoch auf keinen Fall Ausdruck eines spontan aufflackernden Volkszorns, sondern der Auftakt des NS-Regimes zu einer systematischen Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben ("Arisierung"), und ihre vollständige Vertreibung aus Deutschland.
Der Nationalsozialistische Staat war beileibe nicht jener monolithische Block, als den er sich selbst mit einer bildgewaltigen Propaganda inszenierte. Ganz bewusst sorgte Adolf Hitler (1889-1945) für ein Kompetenz-Wirrwarr zwischen den eng verzahnten staatlichen Institutionen und den Parteistrukturen der NSDAP, um alleine die Deutungshoheit zu behalten. Im Zweifelsfall entschied er mit einem direkten "Führerbefehl", der oft genug nicht im Wortlaut bekannt wurde. Gerade in seinen Befehlen zur Vernichtung der Juden, aber auch in strategischen Fragen des Krieges blieb der "Führer" bewusst vage, um keine persönliche Verantwortung zu übernehmen. Der NS-Staat war daher im Kern dysfunktional, zumal die unterschiedlichen Akteure eigene Interessen verfolgten und sich dabei ungeniert bereicherten.
Zwischen Joseph Goebbels und Heinrich Himmler (1900-1945) bestand eine ausgeprägte Rivalität. Sie wird in der zitierten Niederschrift von Himmler deutlich, mit der er Goebbels als Drahtzieher der Novemberpogrome darstellt. Dass Adolf Hitler nichts davon gewusst haben will, ist blanker Unsinn und wissenschaftlich längst widerlegt. Ebenfalls ist es eine Falschaussage, dass die SS von den Ereignissen quasi überrumpelt worden sei und Polizeifunktionen zum "Schutz jüdischen Lebens und Eigentums" ausübte.
Die "Schutzstaffel" (SS) wurde bereits im Jahr 1925 als Unterabteilung der "Sturmabteilung" (SA) zum persönlichen Schutz Adolf Hitlers gegründet. Unter dem "Reichsführer-SS" (RFSS) Heinrich Himmler entwickelte sie sich ab 1934 zu einem Staat im Staate. Ihre neoheidnisch-esoterische Ideologie ging maßgeblich auf Himmlers Einfluss zurück. Nach der Ausschaltung der SA im sogenannten Röhm-Putsch 1934 wurde die SS zur mächtigsten Organisation innerhalb des NS-Staates. Sie übernahm die Kriminalpolizei und war mit der Geheimen Staatspolizei (Gestapo; politische Polizei und Terrorinstrument) verflochten. Mit der Waffen-SS baute Himmler unabhängige militärische Kampfverbände auf. Die SS war gut organisiert und in der Lage, komplexe Operationen durchzuführen. Dies zeigte sich später auch in der Planung und Durchführung der Shoah.
Quellentext
Eidesstattliche Erklärung
Zur Person: Schallermeier, Luitpold, SS-Hauptsturmführer der Waffen-SS, geb. am 12.3.1911 in München, geschieden, 1 Kind, Kriegsteilnehmer 1939-45. Wohnhaft in Wiessee/Obb., Seestraße 18. Mitglied der NSDAP und SS seit Mai 1933.
Zur Sache: Ich war vom 27.12.1933 bis 15.12.1939 im Persönlichen Stab des Reichsführers-SS persönlicher Referent des SS-Gruppenführers Wolff in dessen Eigenschaft als Chef des Persönlichen Stabes Reichsführers-SS, Heinrich Himmler.
Am Abend des 9. November 1938 rief gegen 23.15 Uhr der Führer vom Dienst der Staatspolizeileitstelle München im Hotel Vier Jahreszeiten an und meldete dem Gruppenführer Wolff, mit dem Hauptsturmführer Hajo von Hadeln, Hauptsturmführer Dr. Brandt und ich zusammen waren, daß die Gaupropagandaleitung München-Oberbayern einen Befehl über den Ausbruch der sogenannten "Judenprogramme" [sic] durchgegeben habe, wonach sich die Staatspolizei in die Aktion nicht hindernd einmischen dürfe. Der Führer vom Dienst fragte an, welche Befehle Gruppenführer [Reinhard] Heydrich in seiner Eigenschaft als Chef der Sicherheitspolizei erteile. Gruppenführer Heydrich erklärte, daß er ihn – den Führer vom Dienst – wieder anrufen werde. Heydrich und Wolff wußten von dieser Aktion nichts. Gruppenführer Wolff fuhr daraufhin sofort zu den in der Führerwohnung in der Äußeren Prinzregentenstraße sich beim Führer aufhaltenden Reichsführer-SS Himmler, um ihm den Sachverhalt vorzutragen.
Gegen 1.00 Uhr traf der Reichsführer-SS im Hotel Vier Jahreszeiten ein und gab dem Gruppenführer Heydrich folgenden Befehl für alle Staatspolizei-Leitstellen: "Die Staatspolizei-Leitstellen haben sich nach den Wünschen der Propaganda-Ämter zu richten, vornehmlich Plünderungen zu verhüten und für den Schutz der Personen und Sicherung des jüdischen Vermögens zu sorgen." Der Reichsführer-SS betonte des weiteren in diesem Befehl, daß die Gaupropaganda-Ämter federführend in dieser Aktion seien und daß die Staatspolizeistellen nur Schutzaufgaben wahrzunehmen hätten. Gegen Plünderer solle nachdrücklichst und unnachsichtlich eingeschritten werden. Bei Synagogen sei dafür Sorge zu tragen, daß die umliegenden Gebäude durch die Feuerwehr unbedingt zu schützen seien. Die zum kirchlichen Ritus verwendeten Gegenstände und Geräte seinen sicherzustellen. Diesen Befehl des Reichsführers-SS an Gruppenführer Heydrich hat Hauptsturmführer Dr. Brandt stenografisch niedergelegt und nach Diktat des Gruppenführers Heydrich an die Fernschreibstelle der Staatspolizei-Leitstelle München sofort telefonisch zur Weitergaben an alle Staatpolizei-Leistellen des Reiches im Sammelschreibverkehr durchgegangen.
Im Anschluß daran berief der Reichsführer-SS die im Hotel Vier Jahreszeiten anläßlich der Feier des 9. November wohnenden SS-Oberabschnittsführer der Allgemeinen SS in sein Hotel-Appartement. Auch sie wurden von ihm in meiner Gegenwart von diesem Befehl verständigt. Die Oberabschnittsführer telefonierten anschließend in der Zeit von etwa 1.30 bis 2.30 Uhr aus meinem Zimmer mit ihren Heimatdienststellen. Diese Gespräche habe ich selbst als Blitzgespräche angemeldet und mitgehört. Von den Oberabschnittsführern wurde die telefonische Anweisung an die Allgemeine SS gegeben, im Bedarfsfalle die Staatspolizisten beim Schutz jüdischer Personen und bei der Sicherung der jüdischen Objekte gegen Plünderung aller Art zu unterstützen [sic].
Gegen 3.00 Uhr des 10. November diktierte mir der Reichsführer-SS [Himmler] in meinem Zimmer eine Niederschrift folgenden Inhalts: "Ich bin am 9.11. beim Führer [Adolf Hitler] gewesen, als gegen 23.30 Uhr der Gruppenführer Wolff zu mir kam und mich von den Befehlen des Gaupropaganda-Amtes München unterrichtete. Ich habe den Führer befragt, welche Befehle er für mich habe. Der Führer antwortete mir, daß sich die SS aus dieser Aktion heraushalten solle. Die Staatspolizeistellen sollten für die Sicherstellung des jüdischen Eigentums und für den Schutz der Juden sorgen. Die in den Standorten verbleibende Allgemeine SS solle nur, wenn erforderlich, zu Schutzmaßnahmen herangezogen werden. Ich habe diesen Führerbefehl dem Gruppenführer Heydrich für die Staatspolizeistellen und den Oberabschnittsführern für die Allgemeine SS sofort bekanntgegeben. Als ich den Führer fragte, hatte ich den Eindruck, daß er von den Vorgängen nichts wußte. Der Befehl kommt von der Reichspropaganda-Leitung und ich vermute, daß Goebbles in seinem mir schon lange aufgefallenem Machtstreben und in seiner Hohlköpfigkeit gerade jetzt in der außenpolitisch schwersten zeit diese Aktion gestartet hat."
Dieses Diktat mußte ich persönlich in die Maschine schreiben. Der Reichsführer-SS unterschrieb die Niederschrift, steckte sie in einen Umschlag und versiegelte den umschlag mit seinem Siegelring. Nach Rückkehr nach Berlin übergab ich dem Reichsführer-SS diesen versiegelten Brief, den er in meiner Gegenwart in seinem Panzerschrank einschloß.
(Edition von Wolf Volker Weigand | Vorbemerkung von Patrick Charell)