"Jüdische Hauptsynagoge im Visier. München: Neonazis planten offenbar mehrere Anschläge". In: Rheinische Post Online (2. November 2003).
Vorbemerkung
Am 9. November 2003, dem 65. Jahrestag der Novemberpogrome von 1938, wurde in München am St.-Jakobsplatz der Grundstein für das neue jüdische Kulturzentrum mit der Synagoge Ohel Jakob gelegt. Am Festakt nahmen 600 geladene Gäste teil, unter ihnen Bundespräsident Johannes Rau (1931-2006), Bayerns Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (*1941), Oberbürgermeister Christian Ude (*1947) sowie die Präsidentin der IKG München und Oberbayern, Charlotte Knobloch (*1932). Die Veranstaltung sollte die Wiederkehr des jüdischen Lebens in die Münchner Altstadt feiern, wurde jedoch durch ein nur knapp von der Polizei vereiteltes Attentat überschattet:
Der mehrfach vorbestrafte Neonazi Martin Wiese hatte mit acht weiteren Mitgliedern der "Kameradschaft Süd" ein Bombenattentat geplant und nahm den Tod vieler Menschen billigend in Kauf. Wiese wurde bereits am 6. September 2003 verhaftet und vom Bayerischen Obersten Landesgericht 2004 zu sieben Jahren Haft verurteilt. In der JVA zeigte er keinerlei Reue oder Besserung und gehört auch nach seiner Entlassung weiterhin der rechten Szene an. Er lebt heute in Lindau und wurde seit 2011 mehrfach wegen Volksverhetzung und Gewaltandrohung verurteilt.
Quellentext
Frankfurt/Main (rpo). Die in München festgenommen Neonazis haben möglicherweise mehrere Anschläge geplant. Es gibt Hinweise, dass der Anschlag auf die Hauptsynagoge am Tag der Grundsteinlegung stattfinden sollte. Dazu geladen: Bundespräsident Johannes Rau und CSU-Chef Edmund Stoiber.
Unter den deutschen Rechtsextremisten hat sich offenbar ein harter terroristischer Kern gebildet. Nach den kürzlich erfolgten Verhaftungen von Neonazis und ersten Ermittlungsergebnissen sprach Bayerns Innenminister Günther Beckstein am Freitag in München von der "Struktur einer 'Braunen Armee-Fraktion'".
Neues Schreckensdatum der deutschen Geschichte
Der 9. November 2003 hätte nach den Plänen gewalttätiger Neonazis ein neues Schreckensdatum der deutschen Geschichte werden sollen: Am 65. Jahrestag der Reichspogromnacht wollten Rechtsextremisten bei der Grundsteinlegung für die neue Münchner Hauptsynagoge eine Bombe explodieren lassen. Weitere Sprengstoffattentate in München waren geplant, wie Polizeipräsident Wilhelm Schmidbauer am Freitag in München berichtete.
Sichtlich erschüttert sagte Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), zu den Neonazi-Plänen: "Nicht ein Gebäude oder die Baustelle waren das Ziel des Anschlags, sondern Menschenleben". Polizeichef Schmidbauer führte aus, die Gruppe um den verhafteten Skinhead Martin Wiese habe zwei Attentats-Alternativen diskutiert: entweder die Teilnehmer der Feier oder die Baustelle der Synagoge in die Luft zu sprengen. "Aber es war noch nicht entschieden", sagte Schmidbauer.
An der Feier am 9. November wird neben Bundespräsident Johannes Rau der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, teilnehmen. Mehrere hundert Gäste werden erwartet. "Die Auswirkungen eines Sprengstoffattentats wären unvorstellbar gewesen", sagte Knobloch. Laut bayerischem Innenminister Günther Beckstein haben die Sicherheitsbehörden "eines der empörendsten Verbrechen der deutschen Nachkriegszeit verhindert".
Gemeinde lässt sich nicht einschüchtern
Einschüchtern lässt sich die Kultusgemeinde von den aufgedeckten Anschlagsplänen nicht. Präsidentin Knobloch kündigte an, dass die Grundsteinlegung wie vorgesehen stattfinden werde: "Wir werden an Ort, Datum und Zeit mit Unterstützung der Münchner Bevölkerung festhalten". Am Münchner Jakobsplatz in der Stadtmitte entstehen bis 2005 ein neues Gemeinde- und Kulturzentrum, die Hauptsynagoge und das Jüdische Museum. Das Zentrum für die mehr als 8.000 Münchner Juden ist derzeit das größte jüdische Bauprojekt in ganz Europa.
Die neue Synagoge war laut Polizeipräsident Schmidbauer nur "eines von mehreren Objekten, wo die Gruppe überlegt hat, ob sie eines Anschlags würdig" seien. Innenminister Beckstein sagte: "Das trägt die Struktur einer Braunen Armee-Fraktion". Anhaltspunkte für einen geplanten Anschlag auf das Oktoberfest gibt es laut Bundesanwaltschaft bisher nicht.
Knobloch zeigte sich tief bestürzt über die "neue Dimension des Terrors". Es sei bitter, dass Juden in Deutschland immer noch nicht frei von Angst leben könnten: "65 Jahre nach der Zerstörung der Hauptsynagoge durch die Nationalsozialisten wollten Neonazis erneut ein Zentrum jüdischen Lebens in München zerstören". Sie habe aber vollstes Vertrauen in die Polizei.
Gemeinsam mit Münchens Oberbürgermeister Christian Ude, dem Schirmherrn des Bauprojekts, forderte Knobloch ein "Zeichen der Zivilgesellschaft". Ude nannte als Beispiele Besuche oder Spenden für das jüdische Zentrum: "Dann wird sogar noch etwas Gutes aus dieser deprimierenden Situation entstehen können". Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber forderte eine "harte und abschreckende Bestrafung" der Drahtzieher der "geplanten Wahnsinnstat". Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, mahnte zur Wachsamkeit gegenüber rechter Gewalt.
Sechs Verdächtige sitzen dem Polizeichef zufolge inzwischen in Untersuchungshaft. Zwei weitere seien in Frankfurt festgenommen worden, Haftbefehle seien beantragt. "Wir rechnen mit weiteren Festnahmen", sagte Schmidbauer. Beckstein fügte hinzu, "wer zu dieser terroristischen Zelle gehört" habe und woher sie Sprengstoff, Waffen und Geld bekommen habe, sei noch unklar.
Die Polizei war der kriminellen Freundesgruppe im Juli bei einer Schlägerei nach einem Zechgelage auf die Spur gekommen. Damals hatten zwei Schläger einen 23-jährigen abtrünnigen Neonazi schwer verletzt. Bei anschließenden Durchsuchungen fanden die Ermittler Waffen und eine Reisetasche mit 14 Kilogramm Sprengstoff. Die braunen Brocken, die vermutlich aus alten Granaten und Minen aus Polen stammen, hätten nur noch mit einem Zünder versehen werden müssen.
(Vorbemerkung von Patrick Charell)