Jüdisches Leben
in Bayern

1830er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg

Die Jahrhunderte währende Verbannung der jüdischen Bevölkerung aus dem urbanen Raum wirkte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nach. Allerdings gab es bereits in den frühen 1830er Jahren in München, Bamberg, Würzburg und Regensburg blühende Gemeinden. Ab 1850 wurde auch in Nürnberg wieder eine jüdische Ansiedlung zugelassen. Mit dem Ende der Matrikelgesetze von 1861 wuchsen städtische Gemeinden an, während das Landjudentum schrumpfte – verstärkt durch eine ungebrochene Emigrationsbewegung nach Amerika:

Abraham Joseph Reiss gründete die erste Jeschiwa der USA, David Einhorn verfasste mit dem "Olad Tamid" das erste reformierte Gebetbuch, Jacob Fränkel war der erste Militär-Rabbiner und Oscar Salomon Straus der erste jüdische US-Bundesminister. Bayerische Auswanderer wie der Jeans-Fabrikant Levi Strauss oder Kinomogul Julian Sänger prägten ein kulturhistorisches Phänomen, das in Amerika als "Deutsche Periode" bezeichnet wird.

Eine 1831 im Landtag angekündigte Liberalisierung der rechtlichen Stellung der jüdischen Minderheit hatte keine Konsequenzen nach sich gezogen. Politiker wie David Morgenstern und Fischel Arnheim – die ersten jüdischen Landtagsabgeordneten im Königreich Bayern – kämpften seit 1848/49 verstärkt für eine Gleichstellung, die erst mit dem Beitritt Bayerns zum Deutschen Kaiserreich im Jahr 1871 erfolgte. Die auch von antijüdischen Gewaltausbrüchen begleitete sogenannte Emanzipation der jüdischen Minderheit war damit formal abgeschlossen.

"Viele Orte und Städte in Bayerisch-Schwaben, Franken und auch Altbayern haben ihren wirtschaftlichen Aufschwung im 19. Jahrhundert den Handelsbetrieben und Unternehmen zu verdanken, die von jüdischen Inhabern und Inhaberinnen gegründet und geführt wurden. Somit trugen Letztere zum wirtschaftlichen Erfolg sowie zur Modernisierung der gesamten Region entscheidend bei. […] Tatsächlich erhielt Ichenhausen 1913 das Stadtrecht aufgrund des wirtschaftlichen Erfolges im Handels- und Textilgewerbe, der vornehmlich auf jüdische Betriebe zurückzuführen war" (Bavarikon).

Indessen war innerhalb der Gemeinschaft eine weitverbreitete Anpassung an die nicht-jüdische Umgebung erfolgt, etwa durch Übernahme bürgerlicher Sitten und Bräuche sowie eine Säkularisierung der Lebenswelt. Dies wurde von jüdischen Traditionalisten beklagt. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bereicherten dann zunehmend Jüdinnen und Juden aus Osteuropa die jüdischen Gemeinden in Bayern. In ihnen, die in sogenannten Schtetl sozialisiert und stark an der kulturellen und religiösen Überlieferung des Judentums orientiert waren, erkannten diese traditionell eingestellten Gruppen eine Chance auf religiöse Erneuerung. Andere sahen in den oftmals verarmten Schichten und geschlossenen Sozialmilieus angehörenden Zuwanderern eine gefährliche Projektionsfläche für antisemitische Stereotype.

Gesellschaftlich blieb Diskriminierung von Jüdinnen und Juden trotz der rechtlichen Gleichstellung in Bayern an der Tagesordnung. Das Wittelsbacher Königshaus galt zwar als vergleichsweise judenfreundlich, doch Benachteiligungen von Juden bei der Besetzung von Ämtern und anderen staatlichen Stellen erfolgten auch hier. Eine religiös gefärbte Ablehnung der Minderheit entwickelte sich in dieser Zeit zunehmend zu einem "rassisch" geprägten Antisemitismus; gleichzeitig zeugten Synagogengründungen in zahlreichen bayerischen Städten wie Bamberg und Nürnberg, Regensburg, Straubing, Memmingen und Augsburg vom neuen Selbstbewusstsein der jüdischen Mitbürger, das nicht nur Ablehnung hervorrief. Die Münchner Synagoge in der Herzog-Max-Straße etwa wurde im September 1887 unter großer Anteilnahme der Bevölkerung feierlich eröffnet.

Zu Beginn der Prinzregentenzeit herrschte im bayerischen Judentum fraglos eine Aufbruchsstimmung: Jüdische Logen, Vereine und Burschenschaften wurden gegründet. Eine Fülle von Biografien jüdischer Kunstschaffender, Schriftstellerinnen oder Maler bezeugt die aktive Mitgestaltung der bayerischen Kulturlandschaft. In diesem Klima aus latenter Judenfeindschaft, interreligiöser Annäherung und jüdischer Selbstbehauptung musste die bayerisch-jüdische Gemeinde ein eigenes Verhältnis zu ihrer Rolle in der Gesellschaft entwickeln.

Dieses war politisch vergleichsweise konservativ – die meisten verstanden sich als deutsche, respektive bayerische Staatsbürger jüdischen Glaubens, hatten eine starke Bindung an das Haus Wittelsbach und standen internationalistischem Sozialismus wie auch dem Zionismus ablehnend gegenüber. Als Theodor Herzl den ersten Zionistischen Kongress in München abhalten wollte, leistete die Israelitische Kultusgemeinde so entschieden Widerstand, dass sie 1897 im schweizerischen Basel abgehalten wurde.

Im Ersten Weltkrieg sahen viele Juden die Gelegenheit, ihre Loyalität zum Vaterland endgültig unter Beweis zu stellen. Überdurchschnittlich viele fielen an der Front – dennoch wurde in der Armee eine "Judenzählung" durchgeführt, deren Ergebnis antisemitischen Kräften nicht gefallen konnte und das daher nicht veröffentlicht wurde. Aus der Judenfeindschaft entstanden Verschwörungsnarrativen zur Kriegsniederlage – die verheerende "Dolchstoßlegende" eines angeblichen des Verrats von Linken und Juden hatte ihre lautesten Unterstützer in Bayern.

(Kristina Milz | erg. Patrick Charell)


Literatur

Rolf Kießling: Jüdische Geschichte in Bayern. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin u. Boston 2019 (= Studien zur Jüdischen Geschichte und Kultur in Bayern 11), "Der mühsame Weg der Emanzipation", S. 380–400; "Die jüdischen Gemeinden zwischen Staat, Tradition und Reform", S. 401–424; "Wirtschaftlicher Wandel und Urbanisierung", S. 425–443: "Integration und Akkulturation: Wege in die bürgerliche Gesellschaft", S. 444–461 u. "Akzeptanz und neuer Antisemitismus im Kaiserreich", S. 462–486.

Michael Brenner: Warum München nicht zur Hauptstadt des Zionismus wurde – Jüdische Religion und Politik um die Jahrhundertwende. In: Ders. und Yfaat Weiss (Hg.): Zionistische Utopie – Israelische Realität. München 1999, S. 39–52.

Germanisches Nationalmuseum Nürnberg (Hg.) / Bernward Deneke / Manfred Treml u.a.: AK Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Nürnberg 1988.

Ulrike Heikaus und Julia B. Köhne (Hg.): Krieg! Juden zwischen den Fronten 1914–1918 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Jüdischen Museums München vom 9. Juli 2014 bis 22. Februar 2015), Berlin 2014.

Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.) / Manfred Treml / Josef Kirmeier: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern – Aufsätze. München 1988. (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 17).

Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.) / Manfred Treml / Wolf Weigand: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, Bd. 2: Lebensläufe. München 1988 (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 18).