Ob sich schon um 1400 jüdische Familien in Thannhausen angesiedelt haben, bleibt eine Vermutung. Thannhausen, heute im Landkreis Günzburg gelegen, unterstand im 16. und 17. Jahrhundert als Reichslehen den Freiherren von Hohenschwangau und den Grafen von Sinzheim. Eine dauerhafte Ansiedelung darf für das 16. Jahrhundert vermutet werden, eine Gemeinde existierte bis 1718 und wurde dann zwangsweise aufgelöst. Anlässlich der Ausstellung "Geschichte und Kultur der Juden in Bayern" 1988/1989 hat das Haus der Bayerischen Geschichte eine Exkursion in Mittelschwaben angelegt. Die Route beginnt in Augsburg und erschließt neun jüdische Landgemeinden (Fischach-Thannhausen-Krumbach-Fellheim-Illereichen-Altenstadt-Ichenhausen-Binswangen-Buttenwiesen).
1529 ist mit "Lew Jud zu thainhaussen" in einem Protokoll des kaiserlichen Hofgerichts zu Rottweil der erste Name überliefert. Für die Mitte des 16. Jahrhunderts ist die Anwesenheit von zehn Familienoberhäuptern zu vermuten. 1582 könnten es bereits achtzehn Familien gewesen sein und 1591 weist ein Steuerregister 31 steuerpflichtige Haushaltsvorstände nach, die namentlich aufgelistet wurden.
Die Tatsache, dass es sich zwischen 1592 und 1594 in Thannhausen eine jüdische Druckerei gab, lässt auf einigermaßen stabile Verhältnisse schließen. Die Druckerei in Thannhausen wurde von Peter Geisler und Stephan Schurmann betrieben und als Herausgeber fungierten der Landesrabbiner Isaak Mise'a (Mazia) und Simon Levi Günzburg. Die Ausstattung der Druckerei, wie Pressen und Lettern, kauften sie beim Münchner Adam Berg. 1594 wurde den Behörden in Burgau bekannt, dass die Druckerei ohne Konzession arbeitete. Die jüdischen Herausgeber hatten es versäumt, bei der kaiserlichen Kanzlei in Burgau eine Erlaubnis zum Druck und Vertrieb der Publikationen einzuholen. Die Ortsherren, zu dieser Zeit die Brüder von Bicken, hatten wiederum eine Erlaubnis erteilt und empfanden das Burgauer Vorgehen als Anmaßung. Die Druckerei wurde letztlich auf Druck der Behörden in Burgau und Innsbruck geschlossen und die Ausstattung, die noch nicht abbezahlt war, verkauft. Der hochbetagte Rabbiner wurde eingesperrt und erst gegen eine hohe Kaution fregelassen. Das bekannteste Werk ist der Machsor-Druck, der sich heute in der Universität Oxford befindet. Der Plan eines Talmud-Druckes konnte nicht verwirklicht werden.
Thannhausen wurde durch die Kreuzung zweier Reichsstraßen in vier "Stadtviertel" geteilt. Die insgesamt 18 jüdischen Häuser standen im Unterviertel und im Bachgassenviertel, also westlich und östlich der nach Norden führenden Unteren Marktstraße. Die meisten jüdischen Häuser befanden sich im Bachgassenviertel. Hier stand auch die Synagoge. 1566 erhielt die jüdische Gemeinde vom damaligen Ortsherren Bonaventura Furtenbach das Recht, eine eigene Begräbnisstätte einzurichten. Der nach der Vertreibung 1718 aufgelassene Friedhof befindet sich in einem Waldteil "Judenbegräbnis" nach dem Ortsende an der Straße nach Ziemetshausen.
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war die jüdische Gemeinde in Thannhausen eine der größten in Schwaben. Die Siedlungsstruktur öffnete sich durch Niederlassungsmöglichkeiten auch in den anderen Stadtvierteln. Ein Verzeichnis von 1627 führt 51 jüdische Familien auf, die 26 Häuser bewohnten. Allerdings war Thannhausen im Verlauf des 30jährigen Kriegs Seuchen und Hungersnöten ausgesetzt. Ein dramatischer Rückgang der Bevölkerung war die Folge. Für 1636 wurde gemeldet, dass kaum 70 Christen und Juden in der Stadt gewohnt hätten. Während sich die Zahl der Christen durch Zuzug rasch wieder vermehrte, sind kaum Neuaufnahmen von jüdischen Familien auch nach Ende des Kriegs festzustellen. Erst gegen Ende des 17. Jahrhundert lebten neben den 210 christlichen wieder 24 jüdische Haushalte in Thannhausen. Der Stand vor Kriegsausbruch wurde jedoch nicht wieder erreicht.
1706 hatte Graf Johann Philipp von Stadion die Reichsgrafschaft Thannhausen übernommen. Zunächst gewährte er noch fünf Juden Schutz in seinem Herrschaftsbereich. Die Zahl der jüdischen Steuerpflichtigen betrug mit 21 Personen etwa sechs Prozent der 340 steuerpflichtigen Christen. Die 1717 durchgeführte Vertreibung der jüdischen Familien kam deshalb umso überraschender. Bereits 1716 kam es zu vermehrten Hausverkäufen. Gleichzeitig scheinen sich die stereotypen Vorwürfe, wie Stören des Sonntagsgottesdienstes durch Lärmen und Wucher durch hohe Zinsen verstärkt zu haben. Die Gräfin von Stadion habe schon bei ihrem ersten Besuch in Thannhausen ihr Missfallen über die jüdischen Ortsbewohner bekundet. Außerdem wurden die Juden durch ihre Hexerei für die Kinderlosigkeit der gräflichen Ehe verantwortlich gemacht. Diese Gemengelage aus Vorurteilen und Aberglauben scheinen aber eher ein nachträgliche Rechtfertigung der Vertreibung zu sein. Die tatsächlichen Gründe dürften wohl eher in der Haltung des gräflichen Paares Stadion zu suchen sein. Dass auch handfeste ökonomische Gründe dahinterstanden, zeigen die erzwungenen Hausverkäufe an die christlichen Einwohner. Der gesamte Besitz der jüdischen Familien war bereits vor der Vertreibung geschätzt worden, was auf ein planmäßiges Vorgehen anzeigt.
Der Ablauf der Vertreibung hat sich in einer Schilderung aus dem Jahr 1874 erhalten, die seitdem immer wieder nachgedruckt wurde: "Grauenhaft muß auch die Verjagung in Thannhauſen bei Mindelheim gewesen sein: sie wurden ohne Obdach in den Wald getrieben, wo sie an allem Not litten und zulezt wegzogen. Im Jahre 1718 erließ Graf Philipp von Stadion den Befehl, die Juden hätten den Markt binnen Jahr und Tag zu verlassen. Als sie nach Ablauf der Zeit keine Miene zum Auswandern machten, wurden ihre Häuser verkauft, ihre Schulden liquidiert und ihnen der Ueberrest hinausbezalt. Nachdem sie noch nicht fortwollten, wurden je 6 Bürger für eine Familie beordert, deren Habseligkeiten in den Aberhau, einem Wäldchen beim Markte zu transportieren. Sechs Wochen campierten sie da im äußersten Elend und zogen gen Hürben. Die Synagoge ward abgebrochen; eine Kapelle darauf gebaut. Der alte Synagogenopferstock ist noch in der Kapelle zu sehen".
Die jüdischen Familien fanden Aufnahme bei den Grundherren der Umgebung, etwa in Altenstadt, Ichenhausen und Hürben/Krumbach. Der Abriss der Synagoge und der Umbau zu einer Kapelle beendete die fast zweihundertjährige Geschichte des Zusammenlebens von Christen und Juden in Thannhausen.
Die ehemalige Gemeinde ist Teil der digitalen Bavarikon-Sammlung Das jüdische Erbe Bayerisch-Schwabens. Kultur und Alltag des Landjudentums von 1560-1945, die 2025 mit einem Festakt in der Augsburger Synagoge online gegangen ist.
(Patrick Charell)
Literatur
- Bernhard Stegmann: Aspekte christlich-jüdischer Wirtschaftsgeschichte am Beispiel der Reichsgrafschaft Thannhausen. In: Rolf Kießling / Sabine Ullmann (Hg.): Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit. Berlin 1999, S. 336- 362.
- Hans-Jörg Künast: Hebräisch-jüdischer Buchdruck in Schwaben in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In: Rolf Kießling / Sabine Ullmann (Hg.): Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit. Berlin 1999, S. 277-304.
- Stephen G. Burnett: The Regulation of Hebrew Printing in Germany 1555-1630: Confessional Politics and the Limits of Jewish Toleration. In: Edward Max Reinhart / Thomas Robisheaux: Infinite Boundaries: Order, Disorder, and Reorder in Early Modern German Culture. Kirksville 1998 (= Sixteenth Century Essays and Studies 40), S. 329-348.
- Stefan Rohrbacher: Medinat Schwaben. Jüdisches Leben in einer süddeutschen Landschaft in der Frühneuzeit. In: Rolf Kießling: Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches. Berlin 1995, S. 80-109.
- Anton Birlinger: Aus Schwaben. Sagen, Legenden, Aberglauben, Sitten, Rechtsbräuche, Ortsneckereien, Lieder, Kinderreime. Wiesbaden 1874 (= Neue Sammlung Sitten und Rechtsbräuche 2).
Weiterführende Links
- Das jüdische Erbe Bayerisch-Schwabens: Thannhausen (Bavarikon)
- Exkursion: Jüdische Landgemeinden in Mittelschwaben (Haus der Bayerischen Geschichte)
- Gemeinde Thannhausen (Alemannia Judaica)
- Robert Schlickewitz: Jüdisches Bayern: Die Juden von Thannhausen, 2011
- Thannhausen (Jüdisch Historischer Verein Augsburg)
- Stephen G. Burnett: The Regulation of Hebrew Printing in Germany, 1555-1630: Confessional Politics and the Limits ...