geboren: 11.06.1815,
Hainsfarth
gestorben: 02.08.1878,
Wallerstein
Wirkungsort:
Baltimore | New York | Sacramento u.a.
Nathan Michael Ries (auch Riess, angl. Reese oder Rees) stammte aus einer Familie jüdischer Händler in Hainsfarth. Nachdem er den Beruf des Gerbers erlernt hatte, emigrierte er mit 18 Jahren nach Amerika. Dort begann er zunächst in Baltimore zu arbeiten, kam zu Geld und verlor es in New York wieder. In Virginia kämpfte er sich erneut als Hausierer hoch und wurde im Minnesota-Territorium eine erfolgreicher Grundstückshändler. Im kalifornischen Goldrausch von 1848 machte Michael Ries ein riesiges Vermögen und stieg zum zweitgrößten Grundbesitzer von San Francisco auf. Trotz seines weithin bekannten Geizes spendete er 1873 die Kosten für den Ankauf der Prof. Lieber-Bibliothek an die University of California, Berkeley. In seinem Testament hinterließ er rund 10 Millionen Dollars, von denen er einen guten Teil für wohltätige Zwecke bestimmte (u.a. das "Michael Reese Hospital" in Chicago). Angeblich traf ihn während eines Besuchs in Wallerstein der Schlag, als er dem Friedhofswärter ein Trinkgeld geben sollte.
Nathan Michael Ries war der älteste Sohn des "Handelsjuden" Mendel Joseph Ries (1786-1853) – der als gräfl. Oettingen'scher Schutzjude in Hainsfarth im Güter- und Immobilienhandel arbeitete – und dessen Frau Gala geb. Lazarus (1787-1831). Aus der Ehe ging eine größere Zahl Kinder hervor, von denen jedoch nur sechs ein höheres Alter erlangten. In zweiter Ehe heiratete Mendel die bereits 45jährige Reiz Engländer und bekam mit ihr zwei weitere Töchter. Nathan Michael Ries erlernte den Beruf des Gerbers, was die neuen Regelungen des Bayerischen Judenedikts 1813 ermöglichten, erkannte jedoch früh die persönlichen Einschränkungen dieses Edikts. Er arbeitete in München und sparte dort das Geld für seine Auswanderung zusammen. Mit nur 18 Jahren suchte er 1836 sein Glück in Amerika. Während der Überfahrt brachen auf dem Schiff die Pocken aus, die überlebenden Passagiere und Matrosen wurden bei der Ankunft im Hafen von Baltimore (Maryland) unter Quarantäne gestellt. Im städtischen Siechenhaus (Marine Hospital & Pest House) auf der südlichen Seite des Patapsco-Deltas erholte sich Michael Ries, und begann anschließend in seinem erlernten Beruf zu arbeiten. Schon bald stieg er auf den weniger mühsamen und einträglicheren Hausierhandel um. Er ließ seinen jüdisch klingenden ersten Vornamen weg und nannte sich nun anglisiert "Michael Reese".
Nach zwei Jahren hatte er genügend Geld gespart, um eine florierende Importfirma in New York gründen zu können. 1840 ermöglichte er seinen Geschwister die Auswanderung nach Amerika und siedelte sie in Chicago an. Dann der Schicksalsschlag: Wegen einer Gesetzesänderung im Handelsrecht konnte Nathan Michael Ries eine Reihe von Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen und verlor 1842 auf einen Schlag sein gesamtes mühsam aufgebautes Vermögen. Er wurde zwar nicht entmutigt, doch prägte ihn dieses dramatische Verlustgefühl für den Rest seines Lebens.
Michael Ries fing im Bundesstaat Virginia (Orange und Gloucester County) als Hausierer von vorne an, erst zu Fuß, dann mit dem Pferdewagen, eröffnete schließlich eigene Läden und ein Auktionshaus. Es waren die letzten Jahre des legalen Sklavenhandels in den Südstaaten. Auch Ries erhielt von Geschäftspartnern mehrfach das Angebot, in den lukrativen Menschenhandel einzusteigen. Seine Antwort blieb stets die gleiche: Er lehne es ab "Sklaven gegen Juwelen einzutauschen".
Als wegen Gebietsstreitigkeiten in Texas der Mexikanische Krieg von 1846/48 ausbrach, spekulierte Ries erfolgreich mit Wertanleihen der Armee. Auch dieser berufliche Erfolg war ihm aber noch zu klein: Er wollte mehr, schließlich befand er sich nun im schier endlos weiten "Land der unbegrenzten Möglichkeiten".
Nathan Michael Ries zog weiter in das Minnesota-Territorium, damals noch kein Staat, sondern ein mehr oder minder gesetzloses Grenzgebiet. Er wandte sich dort dem Grundstückshandel zu und erwarb Grund beiderseits des Mississippi, wo damals die Doppelstadt Minneapolis/St. Paul entstand. Als im Januar 1848 bei Sacramento in Kalifornien die ersten Goldfunde gemacht wurden, strömten Zehntausende "Gringos" in das mexikanisch geprägte Land. Es war die große Stunde für Abenteurer und findige Geschäftsleute: Während Löb Strauss in San Francisco haltbare Hosen für die Goldsucher entwickelte, hatte Nathan Michael Ries den gesamten Erlös seiner Immobilienfirma im Gepäck: 120.000 USD. Er bewohnte ein bescheidenes Quartier in der 137 California Street (heute eine gesichtslose Straße im Bankenviertel von Downtown) und investierte das Geld erneut in Grundbesitz. Im Jahr 1851 brach der Große Brand von San Francisco aus und vieler seiner Häuser wurden ein Raub der Flammen. Nathan Michael Ries stand vor dem Ruin, zumal auch in den kommenden Jahren die städtische Wirtschaft am Boden lag und viele Bankhäuser kollabierten. Erneut schränkte er sich in seinem Lebenswandel bis zur Grenze des physisch möglichen ein und kehrte mit unermüdlichem Arbeitseifer zurück an die Spitze. Er war ein eher kleiner, aber stark gebauter Mann und galt durch seine Jahre im Minnesota als harter Kerl. Deswegen holte ihn der Sheriff von San Francisco regelmäßig zu Hilfe, um einen Verbrecher dingfest zu machen. Dass Ries aber jemals eine Waffe abgefeuert hat, wird nirgends erwähnt.
Nathan Michael Ries ließ den Kontakt zu seiner Verwandschaft an der Ostküste nie abreißen und machte auch regelmäßig Urlaub in Deutschland. Er selbst gründete keine eigene Familie, obwohl er eine uneheliche Tochter mit einer aus der Schweiz stammenden amerikanischen Jüdin hatte, die in Hamburg lebte. Zurück in den USA entwickelte sich Ries mit wachsendem Vermögen zu einem exzentrischen Millionär, dessen sprichwörtlicher Geiz an die Disney-Figur Dagobert Duck erinnert:
Er pflegte meist zu Fuß mit einem eingewickelten Butterbrot zur Börse zu kommen. Oft ging er stundenlang zu Fuß, weil er die 5 Cents für eine Straßenbahnfahrt sparen wollte. In der deutschen Bäckerei von Saulman's Coffee Salon kehrte er die abgeschnittenen Brotenden und Krumen vom Ladentisch zusammen, um diese mit einer kleinen Tasse Kaffee zu verzehren. Von sich selbst sagte er: "Meine Liebe zum Geld ist ein Leiden. meine Sucht, es zusammenzusparen und es zu horten, ist irrational, und ich weiß das [...]. Mein Vergnügen an der Anhäufung von Besitz ist pathologisch, aber ich habe das seit der Zeit, als ich in Virgina zu Fuß hausierte, und fühle es bis auf den heutigen Tag. [...] Aber es ist so gut eine Art von Verrücktheit wie jede andere, und auf irgendeine Art ist die ganze Welt verrückt". Aber nicht zuletzt durch diese Sparsamkeit wurde Martin Ries zum zweitgrößten Grundbesitzer in San Francisco, nach dem US-Senator William Sharon (1821-1885).
Wie jeder gute Geschäftsmann musste sich Ries in der Öffentlichkeit angemessen repräsentieren und war entsprechend nach der neuesten Mode gekleidet; Fotografien zeigen ihn im Prince-Albert-Rock, mit steifer Hemdbrust und hohem Kragen, eine Diamantnadel im Plastron, auf dem Kopf einen weichen Seidenhut oder den steifen Zylinder, mit Gehstock und Galoschen.
Im Jahr 1873 trat er zum ersten Mal als selbstloser Wohltäter in Erscheinung. Als die Bibliothek des verstorbenen deutsch-amerikanischen Staatswissenschaftlers Prof. Francis Liber (1800-1872) der erst 1868 gegründeten University of California in Berkeley zum Kauf angeboten wurde, aber nicht genügend Geld zusammenkam, stiftete Ries den gesamten Kaufpreis aus eigener Tasche. Bevor er zu einer weiteren Reise in seine alte Heimat aufbrach, traf er am 14. März 1878 weitgehende Verfügungen über das Vermögen, das er während dreißig Jahren in den USA angehäuft hatte: Rund 5,5 Millionen USD in Bargeld, Immobilien, Anleihen und Aktien – für die Zeit eine gewaltige Summe!
Ende April 1878 war er wieder in Hamburg bei den Pflegeeltern seine Tochter, die das Kind später auch adoptierten. Über Stuttgart reiste er nach Wallerstein, wo seine Mutter auf dem jüdischen Friedhof begraben liegt. In Wallerstein erlitt Michael Ries "auf offener Straße vor dem Haus Nro. 188" am 2. August 1878 einen Herzschlag und sank tot zu Boden. Sein Vermögen erbte die Verwandtschaft in den USA - mit Ausnahme seiner unehelichen Tochter, die trotz der engen Beziehung nicht im Testament erwähnt wird.
Zahlreich sind seine Legate zugunsten karitativer Einrichtungen in San Francisco (Pacific Hebrew Orphan Asylum and Home Society / St. Luke's Hospital / Eureka Benevolent Society / German Hospital) wie in New York (Mount Sinai Hospital / Hebrew Orphan Hospital). Über weitere 390.000 USD sollten Verwandte und Freunde für wohltätige Zwecke frei verfügen können.
Unter anderem erhielt die Universität in Berkeley, der Ries bereits die "Lieber Library" gestiftet hatte, weitere 50.000 USD: Mit dem Geld wurde eine "Reese Library" eingerichtet, die heute noch als Fond innerhalb der Universitätsbibliothek besteht. Sie erhält laufend Zuwachs aus den Zinsen des legierten Kapitals, mit denen Neuanschaffungen und Fördermittel finanziert werden.
Weitere 200.000 USD gingen an seine Lieblingsschwester Henriette Rosenberg und seinen Schwager Jakob, die in Chicago eine Stiftung gründeten. Mit dem jährlichen Erlös wurde ein öffentliches Krankenhaus errichtet und betrieben: Das "Michael Reese Hospital and Medical Center" (2929 S. Ellis Avenue) wurde am 23. Oktober 1881 eingeweiht, beinhaltete eine der ersten Schwesternschulen des Landes und besaß auch den frühesten motorisierten ambulanten Pflegedienst. Zur Uniform der Krankenschwestern gehörte ein Anstecker, später ein Aufnäher in Form des Magen David mit dem Initial "R" im Zentrum (Chicago History Museum). Als das Krankenhaus im Jahr 2009 geschlossen und abgerissen wurde, übernahm die Michael Reese and Pol Bros. Foundation dessen karitatives Erbe.
In Chicago und San Francisco ist der Name Michael Reese bis heute ein wichtiger Teil der Stadtgeschichte. In seiner alten Heimat jedoch geriet Nathan Michael Ries in Vergessenheit. Um sein prachtvolles Grabmal auf dem jüdischen Friedhof in Wallerstein spinnt sich allerdings die Legende um einen spleenigen Millionär, den angeblich der Schlag traf, als er dem Friedhofswärter ein Trinkgeld geben sollte...
(Reinhard H. Seitz | Patrick Charell)
Bilder
Literatur
- Rolf Hofmann (Hg.): Begegnung mit bemerkenswerten Menschen. Lebensbilder jüdischer Persönlichkeiten von einst. Begleitheft zur Ausstellung im Rahmen der Rieser Kulturtage 2010. Deiningen 2010, S. 58f.
- Anonym: Reese, Michael. In: Jewish Encyclopedia, Bd. 17. 2. Aufl. Detroit / New York u.a. 2007, S. 162.
- Gernot Römer: Nathan Michael Ries (Reese). 11. Juni 1817 - 2. August 1878. In: Wulf-Dietrich Kavasch (Hg.): Lebensbilder aus dem Ries [...] (2002), S. 418-424.
- Reinhard H. Seitz: Nathan Michael Ries / Michael Reese (1815-1878), ein amerikanischer Pionier aus Hainsfarth. In: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.) / Manfred Treml / Wolf Weigand: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, Bd. 2: Lebensläufe. München 1988 (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 18), S. 135-142.
- Sarah Gordon (Hg.): All Our Lives. A Centennial History of Michael Reese Hospital and Medical Center 1881–1981. Chicago 1981.
- Charles H. Cutter: Michael Reese. Parsimonious Patron of the University of California. In: California Historical Quarterly Jg. 42 Nr. 2 (Juni 1963), S. 127-144.
Weiterführende Links
Quellen
GND: 129443053X