Evangelische Diakonissenanstalt in Neuendettelsau (ev)


 

GESCHICHTE

Evangelische Diakonissenanstalt in Neuendettelsau – Die älteste diakonische Einrichtung in Bayern

Mit der Säkularisation in Bayern zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der damit verbundenen Aufhebung der meisten Klöster entfielen die von diesen Institutionen erfüllten sozialen Leistungen wie zum Beispiel Armenfürsorge, Volksschulen und die Ausbildung junger Frauen. Im Kampf gegen diese Lücke und die Verelendung breiter Bevölkerungskreise, die durch die Industrialisierung noch verstärkt wurde, entstand 1836 unter anderem die Kaiserwerther Diakonie, die unverheirateten Frauen einen Wirkungskreis bot. Ihre Mutterhäuser waren vorzugsweise in den großen Städten angesiedelt. Um aber auch die oft in großer Not lebende Landbevölkerung zu unterstützen, gründete der evangelische Theologe und Schriftsteller Wilhelm Löhe (1808–1872) am 9. Mai 1854 in der Gemeinde Neuendettelsau im mittelfränkischen Landkreis Ansbach eine Diakonissenanstalt. Mit ihr begann die Geschichte der weiblichen Diakonie in Bayern.
Löhe übernahm als erster Rektor die Verantwortung für den Aufbau der Gemeinschaft. Er hatte die Absicht, junge Frauen zu Krankenschwestern und Sozialarbeiterinnen auszubilden, damit sie dann in den Gemeinden in ganz Bayern soziale Aufgaben übernehmen konnten. Die Mitgliedschaft war anfangs nicht zwingend lebenslang vorgesehen; viele Frauen traten später wieder aus, um eine Familie zu gründen. Die ersten Auszubildenden wohnten noch im örtlichen Gasthaus „Zur Sonne“. Doch schon im Oktober 1854 konnte der zweite Kurs im neu errichteten Diakonissenhaus stattfinden. Das Gebäude diente vor allem den Absolventinnen und Schülerinnen als Wohnung und Lehranstalt. Ihm waren bereits Krankenzimmer und Betreuungsräume für ältere und behinderte Menschen angegliedert. Als erste Oberin der Einrichtung wurde Amalie Rehm (1815–1883) aus Memmingen berufen. Da bald Platzmangel herrschte, baute man im Ort bereits 1855 ein separates Haus für geistig Behinderte. Wilhelm Löhe gelang es innerhalb weniger Jahre, den Aktionsraum seiner Gründung wesentlich auszuweiten. So entstanden ein „Magdalenium“ als Zufluchtsort für „gefallene Mädchen“, ein Frauen- und Männerspital, ein Waisenhaus, mehrere Ökonomiegebäude und eine Bäckerei. Der 1859 eingeweihte Betsaal diente als geistlicher Mittelpunkt. Auf diese Weise bildete sich in Neuendettelsau ein großes diakonisches Zentrum, das weithin bekannt wurde. Wilhelm Löhe gab nun das ursprüngliche Konzept unverbindlicher Mitgliedschaft auf, das sich als nicht tragfähig erwiesen hatte, und richtete ein Mutterhaus in Anlehnung an das Modell der Kaiserwerther Diakonie ein. Die Schwestern trugen seit den 1860er-Jahren eine einheitliche Tracht und waren mit einer Kranken- und Altersversorgung abgesichert. Aufgrund ihrer professionellen Ausbildung waren sie in der Bevölkerung sehr geachtet und beliebt. Sie arbeiteten in Einrichtungen in ganz Bayern, auch im übrigen Deutschland und im Ausland. Wilhelm Löhe sandte Diakonissen nach Nordamerika und Frankreich. In Sarate (Bessarabien) und in Reval (Baltikum) gründeten die Frauen Filialen ihrer Gemeinschaft. Als Löhe 1872 starb, zählte die Diakonissenanstalt Neuendettelsau bereits 150 Mitglieder und war die viertgrößte Einrichtung ihrer Art in Deutschland.
Die Expansion schritt unter den weiteren Rektoren stetig fort. Ab 1875 waren die Diakonissen verantwortlich für die Pflegeleistungen und die Inventarverwaltung des städtischen Krankenhauses in Nürnberg. Später übernahmen sie auch die kommunale Krankenpflege in Fürth, Ansbach, Lindau, Hof, Regensburg und Kulmbach. Der zweite Rektor Friedrich Meyer (1872–1891) legte verstärkt Wert auf das Glaubensleben der Gemeinschaft. Mit dem Bau der Laurentiuskirche, die 1887 geweiht wurde, schuf er das große spirituelle Zentrum der Diakonie Neuendettelsau. Er gab die Initiative zur Gründung der Filialen in Bruckberg und Himmelkron, die sein Nachfolger Hermann Bezzel (1891–1909) dann abschloss. Eine schon bei der Gründung vorgesehene Brüderschule, die damals nur wenig Zuspruch gefunden hatte, konnte Bezzel 1893 für die männlichen Mitglieder einrichten. Das Arbeitsgebiet der Diakone konzentrierte sich auf die Behinderten- und Altenpflege. Bezzel reformierte auch das Schulwesen und ließ das neue Krankenhaus errichten. Ihm folgte Wilhelm Eichhorn (1909–1918), dem es trotz der Hemmnisse des Ersten Weltkriegs gelang, wesentliche Fortschritte in der Versorgung von psychisch kranken Menschen zu entwickeln.
Der nächste Rektor Hans Lauerer hatte das Amt in der langen, schwierigen Phase von 1918 bis 1953 inne. In seine Zeit fallen die politischen Umwälzungen hin zur Weimarer Republik, Inflation (1923) und Depression (1930), gefolgt von der nationalsozialistischen Herrschaft, dem Zweiten Weltkrieg und schließlich der Wiederaufbau in der Nachkriegszeit. Neben weiteren Spitälern und Altersheimen eröffneten unter Rektor Lauerer eine Schule zur Lehrerinnenausbildung, eine Höhere Töchterschule und eine soziale Frauenschule ihre Pforten. Durch diese neuen Ausbildungsstätten erlangte die Diakonie einen großen personellen Aufschwung. Anfang der 1930er-Jahre gehörten 1300 Diakonissen zu Neuendettelsau. Unter dem NS-Regime wurden die Bildungseinrichtungen wie auch alle anderen konfessionell getragenen Schulen aufgelöst. Das schrecklichste Kapitel in der Geschichte von Neuendettelsau war der Abtransport von rund 1200 Menschen mit Behinderungen aus den Pflegeanstalten im Rahmen der „Euthanasie“-Aktion. Viele von ihnen wurden in den staatlichen Tötungsanstalten ermordet.
Die Nachkriegszeit brachte neben dem Wiederaufbau auch gesellschaftliche Veränderungen. Aufgrund des fehlenden Nachwuchses griff man zunehmend auf Mitarbeiter zurück, die keiner Gemeinschaft angehörten. Diesem Umstand trugen die Verantwortlichen 1974 durch eine Satzungsänderung Rechnung. Aus der Diakonissenanstalt wurde das „Evangelisch-Lutherische Diakoniewerk Neuendettelsau“. 1987 wurde die „Diakonische Schwestern- und Brüderschaft Neuendettelsau“eingeführt, deren ledigen oder verheirateten Mitgliedern es freigestellt ist, ob sie eine Tracht tragen. Der zweite Rektor des neuen Instituts, Hermann Schoenauer, der von 1990 bis 2015 im Amt war, musste sich den gegen Ende des 20. Jahrhunderts verstärkt auftretenden Problemen stellen, die der zunehmende Abbau des Sozialstaates nach sich zog. Der Bereich der Wohlfahrtspflege wurde für freie Anbieter geöffnet. Diese Herausforderungen verlangten eine neue Ausrichtung der Diakonie.
Heute ist das Diakoniewerk Neuendettelsau der größte diakonische Träger in Bayern. 2014 arbeiteten rund 7000 Mitarbeiter in mehr als 200 Einrichtungen, in denen etwa 80 000 Menschen betreut, gefördert und behandelt werden. Sie ist Träger von vier Kliniken, zwei medizinischen Versorgungszentren, drei Kompetenzzentren für Menschen mit Demenz (in Forchheim, Nürnberg und München), einem Forschungsinstitut und einer Hochschule in Fürth, Wohn- und Senioreneinrichtungen, Kindertagesstätten, Tagungs- und Gästehäusern, der internationalen Akademie DiaLog, verschiedener Betriebe sowie der kirchlichen Werkstätten für Hostienbereitung und Paramentik. Im europäischen Ausland unterhält das Werk ebenfalls Fachschulen, Senioreneinrichtungen und ambulante Dienste.
Gedenkstätten in Neuendettelsau und im Elternhaus in Fürth dokumentieren die Lebensleistung des Gründers Wilhelm Löhe. Die 1901 durch die Diakonissenanstalt Neuendettelsau als evangelische Schule für Mädchen in Nürnberg gegründete Bildungsanstalt wurde 1932 nach Wilhelm Löhe benannt. Sie steht seit Kriegsende unter der Trägerschaft der evangelischen Landeskirche und entwickelte sich zu einer additiven Gesamtschule (Hauptschule, Realschule, Gymnasium und zusätzlich Fachoberschule) mit einem umfassenden modernen Bildungsangebot. Die Löhe-Kultur-Stiftung vergibt seit dem 200. Geburtsjahr des Gründers 2008 die „Wilhelm-Löhe-Medaille“ an Personen, die sich um sein Werk verdient gemacht haben.


(Christine Riedl-Valder)

Link:
https://www.diakonieneuendettelsau.de/



 

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