Diakonissen-Mutterhaus Hensoltshöhe in Gunzenhausen – Ein agiles evangelisches Glaubenszentrum
Der christliche Unternehmer Ernest Mehl (1836–1912), technischer Direktor der Augsburger Kammgarnspinnerei, erwarb 1903 das am Stadtrand gelegene ehemalige Ausflugslokal Hensoltshöhe. Er plante, in der von Bürgermeister Leonhard Hensolt errichteten und nach ihm benannten Gartenwirtschaft ein christliches Erholungsheim einzurichten. 1905 berief er als Pflegerinnen für seine Gäste die Diakonissen und deren Leiterin Anna Koliz aus dem Mutterhaus Vandsburg in Westpreußen. Die neue Institution fand in wenigen Jahren großen Zuspruch, sodass Mehl 1909 neben dem Freizeitheim auch ein Mutterhaus begründete, das sich dem Vandsburger Verband anschloss. Anna Koliz wurde zur Oberin berufen und stand dem Haus in der langen Periode von 1909 bis 1954 vor. Im Lauf der Zeit übernahmen die Diakonissen immer mehr Aufgaben. 1914 wurde ein Kindergarten eröffnet, vier Jahre danach eine Schule.
1919 erhielt die Hensoltshöhe mit Pfarrer Ernst Keupp ihren ersten Rektor. Er führte die Blau-Kreuz-Schwestern ein, die sich vor allem in den Städten um Alkoholiker und deren Angehörige kümmerten und die Suchtkrankenhilfe mit entsprechenden Angeboten ausbauten. Die Mitgliederzahl stieg in den 1920er-Jahren rasch an. 1929 gehörten dem Mutterhaus Hensoltshöhe bereits 750 Diakonissen an. Um die Versorgung mit Lebensmitteln auch in der Zeit der Inflation zu sichern, wurden mehrere Bauern- und Wirtschaftshöfe erworben. Mit dem Kauf des ehemaligen Bezirkskommandogebäudes und einer leer stehenden Malzfabrik erhielt man auch genügend Platz für neue Ausbildungsstätten. Vom Hensoltshöher Diakonissenhaus aus wurde 1921 die erste „Blättermissionsgruppe“ in Nürnberg gegründet, vier Monate später kam eine weitere in Augsburg hinzu. Ihr Ziel war die Förderung des christlichen Glaubens durch Verbreitung des Evangeliums in Form von Flugschriften. Aus diesen Anfängen entwickelte sich die heutige Stiftung Marburger Medien mit einer jährlichen Produktion von rund 400 verschiedenen Medien im In- und Ausland und einem Schulungs- und Beratungsangebot im Bereich Öffentlichkeitsarbeit für christliche Gemeinden und Gruppen. Eine weitere zukunftsträchtige Aktion war in jener Zeit die Aussendung der ersten Frauen zur Missionsarbeit nach China und Brasilien, später auch nach Japan und Taiwan, wo bis heute Einrichtungen bestehen. Damit begann eines der bedeutendsten Werke der missionarischen Diakonie. Die Fertigstellung der Konferenzhalle Zion mit rund 3000 Plätzen 1926 eröffnete neue Möglichkeiten für großangelegte Veranstaltungen. 1927 erfolgte die Gründung des Kindergärtnerinnenseminars, der heutigen Fachakademie für Sozialpädagogik.
Pfarrer Keupp trat 1933 der NSDAP bei und übernahm 1936 das Amt des Blockleiters, in der Hoffnung, dass er das Mutterhaus dadurch vor Hetzkampagnen und Verfolgungen bewahren könnte. Ab 1939 veranlasste die NS-Regierung die Schließung aller Schulen und Seminare der Hensoltshöhe und verbot Neueintritte. Die Zionshalle wurde für NS-Veranstaltungen, die Gebäude für SA- und HJ-Freizeiten auf der Hensoltshöhe genutzt. In der Landwirtschaft des Mutterhauses kamen Zwangsarbeiter zum Einsatz. Während der Kriegsjahre wurde hier ein großes Lazarett betrieben. Rund 80 Diakonissen pflegten bis zu 500 verwundete Soldaten. Weitere 350 Schwestern wurden im Russlandfeldzug als Sanitäterinnen eingesetzt. Dabei gerieten einige von ihnen in Gefangenschaft oder kamen bei Luftangriffen ums Leben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gestand Pfarrer Keupp seinen politischen Irrweg ein und trat als Rektor zurück. Unter seinen Nachfolgern, den Pfarrern Franz Woeckel (194–-1954) und Hans Hellmuth (1954–1967) sowie Oberin Emma Dennhöfer (1954–1982) erfolgte der Wiederaufbau der Institution. 1949 konnten die Schulen neu eröffnet werden. Daneben führten die Diakonissen an vielen Orten Nähkurse durch; nach und nach übernahmen sie auch die Pflege in umliegenden Krankenhäusern. Das Erholungsheim wandelte sich zu einem Kurheim mit therapeutischem Schwerpunkt in der Naturheilkunde und Kneippschen Anwendungen. 1960 eröffneten die Schwestern die Trinkerheilstätte Römerhaus in Sulzbrunn, heute eine Fachklinik für Suchtkranke. Um 1960 arbeiteten bereits wieder 1266 Diakonissen der Hensoltshöhe in rund 200 Einrichtungen, Krankenhäusern und Gemeinden.
Unter der Leitung von Pfarrer Günther Carqueville (1967–1987), dem ab 1982 Oberin Barbara Oehmichen (1982–1995) zur Seite stand, zeichnete sich aber bereits ein personeller Rückgang, verbunden mit gesellschaftlichen Veränderungen, ab. Dies führte zur Aufgabe mehrere Arbeitsbereiche, zum Beispiel der Gemeindekrankenpflege, und dem verstärkten Einsatz ziviler Angestellter. Nach der Neugestaltung der Konferenzhalle Zion, die 1969 abgeschlossen werden konnte, wurde Gunzenhausen zum Treffpunkt für Glaubenskonferenzen und Freizeiten verschiedener christlichen Gruppierungen, beispielsweise dem ersten Jungschartag 1974 mit 2800 Kindern und dem ersten großen Frauentag 1989, der seitdem alle zwei bis drei Jahre stattfindet. 1978 öffnete in Gunzenhausen das Bibel- und Tagungsheim Bethanien seine Pforten.
In den 1990er-Jahren fiel unter Rektor Hermann Findeisen (1987–2008) und Oberin Erna Utz (1995–2007) die Entscheidung, die Hensoltshöher Einrichtungen grundlegend zu sanieren und das Mutterhaus zu einem modernen Sozialkonzern auszubauen. Anstelle des Kurheims entstand bis 1995 mit dem Sanatorium Hensoltshöhe eine moderne Rehabilitationsklinik. In der Folgezeit wurden unter anderem neue Seminarräume eingeweiht (1999), die Zionshalle medientechnisch ausgestattet (2001), ein Förderverein gegründet (2002), die Mädchenrealschule umgebaut und Tagesreha-Einrichtungen in Bayreuth und Würzburg eröffnet (2006/07). Am 1. Mai 2009 konnte das Mutterhaus sein 100. Gründungsjubiläum begehen.
Heute befindet sich auf der Hensoltshöhe das größte Diakonissenmutterhaus in Deutschland. Zusammen mit seinem Sanatorium und den Bildungseinrichtungen prägt es das Bild der Stadt Gunzenhausen und ist organisatorisches und geistliches Zentrum zahlreicher Einrichtungen und Gemeinschaften. 2017 gehörten ihm rund 360 Schwestern an, von denen noch rund ein Viertel im Berufsleben stand.
(Christine Riedl-Valder)
Link:
http://www.hensoltshoehe.de/