Biografien
Menschen aus Bayern

Ernestine Reuter Frauenrechtlerin und Pazifistin

31.10.1870, Horb a.Main
2.04.1934, Homburg

Wirkungsort: Lichtenfels

Ernestine Reuter wuchs in Hochstadt am Main auf. Nach dem Tod ihres Vaters führte sie ab 1904 dessen Textilwarengeschäft weiter. Auf ihre Initiative hin wurde im April 1910 in Lichtenfels eine Ortsgruppe des "Deutschen Verbands für Frauenstimmrecht" gegründet, deren Vorsitz sie übernahm. Als "Oberfrankens erste Frauenrechtlerin" setzte sie sich in den folgenden Jahren für die Einführung des Frauenwahlrechts ein. Während des Ersten Weltkriegs übernahm sie zeitweise die Leitung eines Lazaretts. Dafür wurde Reuter 1916 mit dem König-Ludwig-Kreuz und 1917 mit der Roten-Kreuz-Medaille ausgezeichnet. In den 1920er Jahren war sie Mitglied der "Women’s International League for Peace and Freedom". Das NS-Regime verfolgte sie ab 1933 aufgrund ihrer Herkunft sowie ihrer politischen Überzeugungen, und trieb sie letztlich in den Suizid.

Durch den Eisenbahnanschluss nahm Hochstadt am Main ab Mitte des 19. Jahrhunderts einen wirtschaftlichen Aufschwung. Ein Bauboom setzte ein. Der Kaufmann Abraham Reuter und seine aus Bayreuth stammende Frau Adelheid zogen wenige Jahre nach Ernestines Geburt aus dem nahe gelegenen Horb a.Main in die oberfränkische Gemeinde. Insgesamt hatte das Ehepaar sieben Kinder. Die einzige jüdische Familie im Ort war gut integriert und nahm rege am Vereinsleben teil.

Ernestine Reuter besuchte die Israelitische Volksschule in Redwitz a.d.Rodach. Über eine weiterführende Schulbildung ist nichts bekannt. Nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1904 übernahm sie dessen Immobilie mit Mobiliar und das Warenlager für 20.000 Gulden, eine beträchtliche Verpflichtung für die alleinstehende Frau. Sie führte das Geschäft erfolgreich weiter, musste aber später die Buchhaltung mangels eigener Kenntnisse einer Fachkraft übergeben. Ernestine Reuter war auch für technische Neuerungen offen. So hatte das Kaufhaus mit der Nummer "2" eine ersten Telefonanschlüsse im Ort.

Ab 1897 gehörten Ernestine Reuter und ihre Schwester Frieda dem örtlichen Zweigverein des Bayerischen Frauenvereins des Roten Kreuzes an. Im Gegensatz zu dezidiert jüdischen oder katholischen Wohltätigkeitsvereinen war das Rote Kreuz interkonfessionell geprägt und widmete sich verschiedenen karitativen Aufgaben (u.a. auch Säuglings- und Kinderfürsorge). Durch die Reform des bayerischen Vereinsgesetzes 1908 konnten sich auch Frauen organisieren. Noch im gleichen Jahr trat Ernestine Reuter dem bereits seit 1902 bestehenden "Deutschen Verband für Frauenstimmrecht" bei. Rasch wurde sie zur Vertrauensperson der Sektion Oberfranken bestimmt. 1910 wurde in Lichtenfels ein durchaus erfolgreicher und über die Jahre wachsender Ortsverein gegründet, dessen Vorsitz sie übernahm. Reuter war die treibende Kraft, leistete Aufklärungsarbeit und organisierte Vorträge prominenter Persönlichkeiten (u.a. Lida Heymann, Anita Augspurg oder Rosika Schwimmer), an denen auch viele Männer teilnahmen. Am aufsehenerregendsten war vermutlich eine Vortragsreihe mit der berühmten britischen Suffragette Leonora Helen Tyson-Wolff (1883-1959), die im Herbst 1912 in Würzburg, Bamberg und Lichtenfels – am 27. Oktober im Bürgerbräu Saal – abgehalten wurde.

Zu Anfang des Ersten Weltkriegs stellte Ernestine Reuter in ihrem Haus einen Raum als Notlazarett zur Verfügung und leitete das im Hochstadter Bezirkskrankenhaus eingerichtete Lazarett. Für ihren Einsatz wurde sie am 1. September 1916 mit dem neu geschaffenen König-Ludwig-Kreuz ausgezeichnet und erhielt im November 1917 die Rote-Kreuz-Medaille. 1919 fanden die ersten Wahlen statt, an denen auch Frauen teilnehmen konnten. Die Frauenbewegung verschmolz mit der Friedensbewegung, was sich auch an den Internationalen Frauenliga für Frieden zeigte. Ernestine Reuter beteiligte sich hier aktiv und nahm unter anderem am III. Internationalen Kongress der Frauen für Frieden und Freiheit 1921 in Wien teil. Da die internationale Bewegung von Teilen der Bevölkerung als "Paktieren mit dem Feind" betrachtet wurde, blieb diese Bewegung jedoch immer Ausdruck einer Minderheit in Deutschland.

Die NSDAP hatte in Ernestine Reuters Wohnort Hochstadt einen relativ schweren Stand. Nach 1933 kam es unmittelbar zu keinen Veränderungen, der katholische Bürgermeister der BVP blieb im Amt. Jedoch beschränkte die NS-Gesetzgebung die Rechte und Rolle der Frau auf das klassische Familienbild. Am 9. März 1933 wurde das Büro der Friedensbewegung in München gewaltsam aufgelöst. Auch als Jüdin wurde Reuter zur Zielscheibe der Machthaber. Sie musste ihren Posten als Vorsitzende des Roten-Kreuz-Vereins abgeben, ihr Geschäft wurde boykottiert. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend, und für den erwerbsunfähigen Bruder Emil, der mit im Haus lebte, musste sie ebenfalls sorgen. Diskriminierende Steuerprüfungen erschwerten die Arbeit zusehend. Durch die andauernde Stresssituation erkrankte Ernestine Reuter. Im August 1933 hielt sie sich in Mainz auf, im November des gleichen Jahres begab sie sich in das Israelitische Krankenhaus in Frankfurt am Main. Kurze Zeit später ließ sie sich auf eigenen Wunsch in das Bürgerhospital in Saarbrücken verlegen. Weil sich ihr Zustand verschlimmerte, folgte Ende 1933 die Überweisung in die "Abteilung für Nervenkranke" im Landeskrankenhaus Homburg a.d. Saale. Von einem Spaziergang kehrte sie nicht mehr zurück: Ernestine Reuter erhängte sich am 2. April 1934. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof Burgkunstadt beigesetzt.


(Christian Porzelt)

Literatur

  • Christian Porzelt: Ein Haus und seine Bewohner. Die jüdische Familie Reuter aus Hochstadt am Main. Lichtenfels 2022 (= Vom Main zum Jura 31), S. 91f.

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