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Prinzregent Luitpold

 

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Bevölkerung, Wirtschaft und Technik in der Zeit Ludwigs II.

Bevölkerung in Bayern und Deutschland 1800–1918 Bierflasche der Aktienbrauerei zum Löwenbräu (um 1890)
Der Wintergarten König Ludwigs II., 1 Der Wintergarten König Ludwigs II., 2
Der Wintergarten König Ludwigs II., 3 / Postkarte „Erinnerungen aus dem Leben König Ludwigs II. v. Bayern.“, 5 Doppel-Steppstich-Nähmaschine (um 1884)
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Die Zeit bis Mitte der 1870er-Jahre in Deutschland wird als „Gründerzeit“ bezeichnet. Die Menschen erlebten eine Ära des raschen technischen Fortschritts, des Bevölkerungswachstums und der Wirtschaftskraft, des Wandels von Stadt und Land und einer rasant zunehmenden Mobilität. Die Gesellschaft begann sich immer weiter zu differenzieren. Diese Tendenzen bestimmten auch die Entwicklung in Bayern.

 

Bevölkerungsdynamik

Um 1864 zählte Bayern 4,7 Millionen Einwohner, am Ende der Regierungszeit Ludwigs II. 1886 waren es 5,4 Millionen. Bayerns Bevölkerung wuchs zwar, aber bei weitem nicht so schnell wie im übrigen Deutschland. Das lag insbesondere an der Wirtschaftsstruktur Bayerns: Noch immer war das Königreich zu weiten Teilen Agrarland, die Industrie beschränkte sich auf die großen Städte und vereinzelte Standorte. Die Auswanderung aus Bayern, vor allem nach Nordamerika, erreichte bis um 1870 ihren Höhepunkt. Das liberale Heimat- und Niederlassungsrecht von 1868 begann erst langsam zu greifen.

 

Die Bevölkerungszahlen in Bayern stiegen hauptsächlich in den Städten. In den kreisfreien Städten wuchs die Einwohnerzahl dreimal so schnell wie in den Landkreisen. Das Wachstum machte sich insbesondere in den acht größten Städten München, Nürnberg, Augsburg, Würzburg, Ludwigshafen, Fürth, Kaiserslautern und Regensburg bemerkbar, aber auch in anderen Industriestädten wie Schweinfurt oder Aschaffenburg. In München, das 1852 erstmals über 100000 Einwohner gezählt hatte, betrug die Bevölkerung um 1880 etwa 230000, wobei hier vor allem die Eingemeindung umliegender Orte ins Gewicht fiel. Die Ausbreitung der Städte und die gleichzeitige Landflucht wurde schon von den Zeitgenossen als sozialer Wandel empfunden.

 

Die nun gesetzlich ermöglichte Freizügigkeit, die eine starke Binnenwanderung erst ermöglicht hatte, wurde nun auch durch ein immer dichteres Eisenbahnnetz verstärkt. 1886 befand sich rund ein Siebtel des gesamten Streckennetzes im Deutschen Reich auf bayerischem Boden.

 

Neue Bedingungen im Alltag

Mit dem Anwachsen der Städte entstanden neue Herausforderungen an die dortige Lebenssituation. In den Städten herrschte Wohnungsnot, und häufig gab es Engpässe in der medizinischen Versorgung. 1873/74 suchte erneut eine Cholera-Epidemie die Hauptstadt München heim. Nun erst wurden Vorschläge des Physiologen und Hygienikers Max von Pettenkofer (1818–1901) für eine geordnete Entwässerung und Abfallbeseitigung umgesetzt. Ab 1882 erhielt München eine Kanalisation.

 

Für eine gewaltige Veränderung des Lebens in der Stadt sorgte die Elektrifizierung. Die Firma Schuckert & Co. begann 1873 mit der Fertigung von Bogenlampen. Drei Jahre später sorgten diese Lampen bereits für die Beleuchtung der Kaiserstraße in Nürnberg. 1882 war Nürnberg mit einer durchgängigen elektrischen Beleuchtung in der Kaiserstraße und am Josephsplatz Deutschlands erste Stadt mit diesem Standard. Schon 1879 war die Halle des Münchner Central-Bahnhof mit elektrischem Licht ausgestattet worden.

 

Im September 1882 fand im Münchner Glaspalast die „Erste Elektrizitäts-Ausstellung“ Deutschlands statt, organisiert durch den Ingenieur Oskar von Miller (1855–1934). Miller und seinem französischen Kollegen Marcel Deprez (1843–1918) gelang damals ein epochales Experiment. Eine Dampfmaschine in Miesbach erzeugte Strom, der über Telegrafendrähte ins 57 Kilometer entfernte München geleitet wurde, wo er die Pumpe für einen künstlichen Wasserfall betrieb. Es war die erste Langstreckenübertragung von Gleichstrom weltweit. 1884 baute Miller das erste Elektrizitätswerk in München. 1885 wurden elektrische Lampen erstmals für die Beleuchtung auf dem Münchner Oktoberfest eingesetzt.

 

Die Gewinnung von Strom und sein Transfer über weite Strecken eröffneten dem rohstoffarmen Standort Bayern langfristig neue Perspektiven. Künftig konnten Wasserkraftwerke Strom erzeugen, der sich anderenorts einsetzen ließ. Der elektrische Strom wurde anfangs für die öffentliche Beleuchtung und den Betrieb der ersten Straßenbahnen verwendet, ehe private Unternehmer in Elektromotoren für ihre Fabriken investierten.

 

Auch die neue Fernsprechtechnik, das „Telephon“, hielt in Bayern Einzug. Im Juli 1882 wurde in München eine lokale Telefonanlage errichtet. Die neue Technik wollten zu Beginn 118 Telefonabonnenten nutzen; sie mussten über ein Jahr auf ihren Anschluss warten. 1883 entstand zwischen zwei Privatfirmen in Fürth und Forchheim die erste Telefonleitung zwischen zwei Städten in Deutschland.

 

König Ludwig II. war gegenüber technischen Neuerungen seiner Zeit sehr aufgeschlossen. Der Wintergarten auf dem Dach des Festsaalbaus der Münchner Residenz wurde mit modernsten Methoden klimatisiert. Der König vergab Hoftitel an eine „Dampfwaschanstalt“, die mit chemischer Reinigung begann, oder an eine Fabrik zur Fertigung neuartiger Spar- und Kochherde.

 

Bayerns Landwirtschaft um 1870/80

Anfang der 1880er-Jahre lebte mehr als die Hälfte der Bevölkerung Bayerns von der Land- und Forstwirtschaft. Die Zahl der Beschäftigten im Agrarbereich war zwar noch bis 1870 angestiegen, doch nahm ihr Anteil stetig ab auf 46 Prozent der Einwohner Bayerns um 1895.

 

Landwirtschaft war in der Regierungszeit Ludwigs II. zum größten Teil noch Handarbeit. Die Mechanisierung bahnte sich jedoch bereits an. In Augsburg wurden im Betrieb des Schlossermeisters Engelbert Buxbaum landwirtschaftliche Maschinen hergestellt, ebenso seit 1862 bei Magnus und Karl Epple in Sonthofen. Die Firmen fusionierten 1883 zu den „Vereinigten Fabriken landwirtschaftlicher Maschinen“. In den 1870er-Jahren begann in Regensburg die Firma Heinrich Lanz mit dem landwirtschaftlichen Maschinenbau. Die Maschinen blieben jedoch bis um die Jahrhundertwende für die breite Masse der Landwirte unerschwinglich.

 

Die Situation der Industrie in Bayern

Neben industriellen Inseln in den größeren und großen Städten des Königreichs gab es auch kleine, „monoindustrielle“ Standorte in der Pfalz (Schuhindustrie in Pirmasens), im Bayerischen Wald (Glasfertigung in Zwiesel, Bodenmais), in Oberfranken (Porzellan- und Keramikfertigung in Selb, Schuhindustrie in Burgkunstadt) und Oberbayern (Kohleproduktion in Penzberg, Peißenberg und Kolbermoor). Die meisten Brauereibetriebe in Oberbayern und Oberfranken wandelten sich in den 1860er- und 1870er-Jahren zu Aktiengesellschaften und übernahmen industrielle Produktionsabläufe.

 

Die Oberpfalz wurde wieder zu einem Revier für Eisenerzgewinnung. Nachdem schon 1855 die „Eisenwerk-Gesellschaft Maxhütte“, ein privates Unternehmen, gegründet worden war, errichtete der bayerische Staat 1882/83 einen Standort für Eisenerzbergbau mit eigenem Verhüttungswerk. Ostbayern, besonders die Region des Bayerischen Waldes, erhielt eine wichtige Verkehrsanbindung. 1877 wurde die Waldbahn zwischen Plattling und Bayerisch Eisenstein eingeweiht. Die Bahntrasse herzustellen war auch technisch sehr anspruchsvoll. Sie erforderte den Bau zahlreicher Kehren, Brücken, Viadukte und Tunnels. Seither gab es eine Eisenbahnverbindung von der Donau bis zur bayerisch-böhmischen Grenze.

 

Besondere Impulse erhielt die Industrialisierung in Bayern durch den Maschinenbau. Seit 1857 gab es die „Augsburger Maschinenfabrik-AG“, hervorgegangen aus der „Sanderschen Maschinenfabrik“ (gegründet 1840), die seit 1844 als „C. Reichenbachsche Maschinenfabrik“ firmiert hatte. Die „Eisengießerei und Maschinenfabrik Klett & Comp.“ von Theodor von Cramer-Klett (1817–1884) aus dem Jahr 1848 wurde 1873 in die „Maschinenbau-Actiengesellschaft Nürnberg“ umgewandelt. Das Augsburger und das Nürnberger Unternehmen fusionierten 1898 zur „Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg“ (MAN AG). Die „Schuckertsche Elektrizitäts-AG“ in Nürnberg bereitete mit ihren seit 1873 gefertigten Bogenlampen die Elektrifizierung der Eisenbahn vor. 1886 begann Friedrich Fischer (1849–1899) in Schweinfurt die Herstellung von Kugellagern.

 

Ein neuer Wirtschaftszweig: der Fremdenverkehr

Im späten 19. Jahrhundert kam ein weiterer Wirtschaftszweig in Bayern hinzu: der Fremdenverkehr. Die südbayerische Wald-, Seen- und Gebirgslandschaft wie auch die Kurorte im Fränkischen zogen im 19. Jahrhundert immer mehr Besucher an. Die Natur bot einen Ausgleich für die als bedrohlich empfundene fortschreitende Industrialisierung und Verstädterung. Der frühe Tourismus hatte dabei nicht nur Erholung und Beschaulichkeit zum Ziel, er verband sich oft auch mit volks- und heimatkundlichen Beobachtungen. Zwar waren Reisen nach wie vor den Wohlhabenden vorbehalten, die dafür Zeit und Geld aufbringen konnten. Doch sprach der moderne Tourismus andere Teile der Bevölkerung an, als es die traditionellen Bildungsreisen von Adeligen, Literaten und Künstlern oder auch die christliche Wallfahrt taten.

 

Dem Tourismus kam die Erschließung durch Eisenbahn und Dampfschiff zugute. 1851 fuhr das erste Dampfschiff auf dem Starnberger See, seit 1854 gab es die Eisenbahnstrecke München–Starnberg. Insbesondere der „Alpinismus“ wurde schon bald zu einem Massenphänomen. 1869 wurde in München der „Deutsche Alpenverein“ gegründet, nach dem Vorbild des Österreichischen Alpenvereins von 1862. Beide Vereine schlossen sich 1873/74 zusammen. 1880 gab es bereits 8000 Mitglieder, der Verein verfügte über ein Netz von insgesamt 37 Gebirgshütten.

 

In den 1870er-Jahren entwickelte sich auch das Geschäft mit Postkarten und Andenken. Die Orte stellten sich saisonal auf Übernachtungsgäste ein und bauten ihre Gastronomie aus. Es wurden Verkehrs- und Verschönerungsvereine gegründet, um den stetigen Fremdenverkehr in den Ortschaften zu organisieren.

 

Das Königshaus hatte seinen Anteil an der Konjunktur des Tourismus in Bayern. Schon König Maximilian II. und vor allem seine Frau Königin Marie machten das Bergsteigen populär. Adelige und Großbürger taten es den Wittelsbachern gleich und suchten Bäder und Kurorte auf – etwa Reichenhall (die Sole- und Molkenkuranstalt Bad Achselmannstein), Kissingen oder den Berchtesgadener Raum. Weitere bekannte Bäder waren Bocklet, Windsheim und Königshofen in Franken, Krumbach und Wörishofen in Schwaben oder Kohlgrub, Aibling, Feilnbach und Tölz in Oberbayern. Viele Touristen wurden von den Sommerresidenzen und Gebirgshütten der königlichen Familie angezogen. Der rätselhafte Tod Ludwigs II. 1886 löste schon damals einen Besucherandrang zum Schloss Berg am Starnberger See aus, der bis heute fortbesteht.

 

Die Wirtschaftspolitik der „Gründerzeit“ in Bayern und im Deutschen Reich

Die Wirtschaftspolitik Ludwigs I. und Maximilians II. hatte sich vor allem dem Schutz der alten Ordnung verschrieben. In der Zeit Ludwigs II. setzte man endgültig auf die Modernisierung der Wirtschaft. Der König berief durchweg liberale Ministerien, die die Industrialisierung bejahten und gesetzliche Hürden aus dem Weg räumten.

 

In den späten 1860er-Jahren wurden dringend notwendige Reformen durchgeführt. Zentral war die Einführung der Gewerbefreiheit 1868. Bayern war der letzte deutsche Staat, der diesen Schritt vollzog. Im Jahr darauf wurde die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes übernommen.

 

Die Industrialisierung sollte vor allem mit der Liberalisierung des Kredit- und Kapitalmarktes voranschreiten. Im Zeitraum zwischen 1854 und 1870 etwa wurden 111 Aktiengesellschaften gegründet, unter ihnen die seit 1865 im pfälzischen Ludwigshafen angesiedelte „BASF“ („Badische Anilin- & Soda-Fabrik“). Mit neuen Gesetzen versuchte die Regierung die Verfügbarkeit von Kapital zu erleichtern – etwa durch das neue Aktiengesetz von 1870, das die staatliche Einzelgenehmigung für den Gang eines Unternehmens an die Börse aufhob. 1874 folgten weitere Gesetze zur Erleichterung von Bankgeschäften. Das führte freilich auch zu riskanten Spekulationen und fragwürdigen Anlagegeschäften.

 

Mit der Reichsgründung 1871 waren die wirtschaftspolitischen Belange neu zu regeln. Zoll und Verkehr gingen vom Handelsministerium an das Außenministerium über; ebenso fielen nun Post- und Eisenbahnwesen in den Bereich des Außenministeriums. Erst 1904 wurde ein bayerisches Verkehrsministerium eingerichtet. Das Innenministerium erhielt eine eigene Abteilung für Landwirtschaft, Handel und Gewerbe sowie Bau- und Bergwerksverwaltung.

 

Die Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten in Deutschland im Jahr 1873 vereinfachte den Warenaustausch enorm. Zum 1. Januar 1876 wurde auch eine einheitliche Währung im Deutschen Reich (Mark und Pfennig) eingeführt. Die Reichswährung wurde auch in Papiergeld ausgezahlt. Damit verloren die Einzelstaaten, in Bayern namentlich die „Bayerische Hypotheken- und Wechsel-Bank“, ihr Privileg zur Emission von Banknoten. Die „Hypotheken- und Wechsel-Bank“ beteiligte sich dafür an der 1875 gegründeten Bayerischen Notenbank.

 

Die Integration der deutschen Staaten in das deutsche Kaiserreich erhöhte den Konkurrenzdruck auf die bayerische Wirtschaft. Dies traf neben der Textilindustrie vor allem den Agrarsektor. Angesichts der Industrialisierung und des Bevölkerungswachstums wurden mehr Nahrungsmittel, etwa Getreide, nach Deutschland importiert als exportiert. Den Bauern in Bayern machten dabei die niedrigeren Preise für Getreide aus Frankreich und Preußen zu schaffen.

 

Die französischen Kriegsentschädigungen von 1871 lösten auch in Bayern einen Wirtschaftsboom aus. Das Geld, alleine 100 Millionen Francs für Bayern, ermöglichte viele Unternehmensgründungen und hohe Börsenumsätze. Diese Konjunktur endete jedoch schon 1873 im so genannten „Gründerkrach“, einer Wirtschaftskrise, ausgelöst durch dramatische Kurseinbrüche an der Wiener Börse. In Berlin wurden daraus Konsequenzen gezogen: Kanzler Bismarck ließ 1878/79 Subventionen und Schutzzölle einführen, um die heimische Wirtschaft zu schützen. Auch die bayerische Landwirtschaft wurde nun entlastet. Die Schutzzollpolitik bedeutete jedoch einstweilen das Ende der wirtschaftsliberalen Ära in Deutschland.