Lindau, Kanonissenstift Unsere Liebe Frau – Exklusive Wohnstätte für adelige Töchter
Laut Gründungslegende geriet Graf Adelbert von Rätien aus dem Geschlecht der Burcharde im Jahr 810 bei einer Überfahrt auf dem Bodensee in einen gefährlichen Sturm. Er gelobte bei seiner Rettung an der Stelle, an der er wieder festen Boden unter den Füßen hätte, ein Kloster zu errichten. In schriftlichen Quellen ist erstmals 882 ein Kloster an diesem Ort erwähnt. Es handelt sich zugleich um die erste Nennung von Lindau als Bezeichnung für „die mit Linden bestandene Insel“.
Das Kloster wurde in den ersten Jahrhunderten seines Bestehens wohl von Benediktinerinnen geführt. Aus karolingischer Zeit hat sich ein Evangelienbuch mit Prachteinband aus Gold und Silber erhalten, das einen Eindruck von der kulturellen Blüte des Klosters in seiner Frühzeit gibt (heute in der Pierpont Morgan Library, New York). Zur Ausstattung der Abtei gehörten der größte Teil der Insel sowie der Markt Aeschach am gegenüberliegenden Ufer, der sich um 950 an der Kreuzung zweier stark frequentierter Handelsstraßen entwickelt hatte.
948 zerstörte ein Brand die ganze Anlage. Über den Wiederaufbau haben sich keine Quellen erhalten. In den unsicheren Kriegszeiten um 1079 verlegte das Kloster seinen Markt Aeschach auf die Insel in den Bereich zwischen seiner Niederlassung und den, vermutlich schon vor der Klostergründung vorhandenen, Fischerhäusern um die Peterskirche. Hier entwickelte sich in der Folgezeit eine wirtschaftlich sehr erfolgreiche Kaufmannssiedlung, die jedoch schon bald bestrebt war, sich aus der Oberhoheit des Klosters zu lösen. Kaiser Heinrich III. setzte im Jahr 1051 Äbtissin Tuota ein, die gleichzeitig für die Stifte Buchau und Lindau zuständig war. Ihr gelang es, das Klosterleben in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts auf der Grundlage der Hirsauer Reform zu erneuern. Unter diesem Einfluss entstand auch um 1100 eine dreischiffige Säulenbasilika mit Querhaus, einem rechteckigen Chor und Westturm.
Im 12. Jahrhundert fielen die Vogteirechte an den König. Zwischen 1256 und 1267 wurde das Kloster in ein Stift der Augustinerchorfrauen umgewandelt. Zum Konvent gehörten damals zwischen 12 und 15 Damen. Voraussetzung für die Aufnahme war die adelige Abstammung. Das Lindauer Stift wurde so zur Heimstatt für Töchter von Adelsfamilien aus Schwaben, der angrenzenden Schweiz und aus ganz Südwestdeutschland, die hier eine standesgemäße Versorgung erhielten. Die Stiftsdamen waren weder der Klausur noch strengen Ordensregeln unterworfen und durften die Gemeinschaft jederzeit wieder verlassen.
Nach einem langwierigen Prozess gelang der Lindauer Kaufmannschaft im 14. Jahrhundert der Aufstieg zur freien Reichsstadt und damit die Loslösung vom Stift. 1430 erhielt Lindau die Reichsvogtei über das Koster. Unter Äbtissin Ursula von Siegberg (Amtszeit 1432–1476) gelangte die Gemeinschaft 1466 in den Rang einer reichsfürstlichen Abtei. Ende des 15. Jahrhunderts hat man den Chor der Kirche in gotischen Formen erneuert. Wandmalereien aus jener Epoche wurden 1978 in der Sakristei aufgedeckt.
Obwohl sich die Stadt Lindau der Reformation anschloss und 1530 in der benachbarten Stefanskirche den protestantischen Ritus einführte, blieben die Stiftsdamen dem katholischen Glauben treu. Das Zusammenleben zwischen dem Fürststift und der Reichsstadt war in den nächsten Jahrzehnten von Konflikten beherrscht. Bei dem verheerenden Lindauer Stadtbrand im Jahr 1728 wurden auch die Stiftsgebäude weitgehend zerstört. Äbtissin Anna Maria Margarethe von Gemmingen (1711–1771) realisierte trotz finanzieller Engpässe von 1732 bis 1734 den bis heute weitgehend erhaltenen Neubau. Er wurde als L-förmiger, dreigeschossiger Bau errichtet. Es handelte sich um eine reduzierte Version der Pläne des Elchinger Klosterbaumeisters Christian Wiedemann (um 1680–1739), der eine vierseitig geschlossene, barocke Anlage vorgesehen hatte. Im zweiten Stockwerk des Mittelpavillons im Nordflügel wurde 1736 ein qualitätsvoll stukkierter Festsaal eingebaut. Das darin befindliche große Deckenfresko von Franz Joseph Spiegler (1691–1757) ist dem Triumph der christlichen Tugenden über die Laster gewidmet (siehe Abbildung). Die Kirche, die 1728 ebenfalls schwere Schäden erlitten hatte, konnte nur dank des Vermögens der verwitweten Gräfin von Ponheim erneuert werden. Dafür musste jedoch die herrschende Fürstäbtissin ihr Amt der Stifterin abtreten. Das Gotteshaus wurde daraufhin ab 1748 von dem Deutschordensbaumeister Johann Caspar Bagnato (gest. 1757) auf den verbliebenen mittelalterlichen Mauerresten als lichtdurchfluteter Wandpfeilersaal mit Emporen wieder aufgebaut. Die Kirche bildet die Südseite der Stiftanlage und ist durch einen gedeckten Bogengang mit dem Ostflügel verbunden. Sie erhielt eine Rokokoausstattung mit Altären und einer Kanzel aus Stuckmarmor, stukkierte Rocaillen und Fresken, die Franz Joseph Appiani (gest. 1786) schuf. Ihre Einweihung erfolgte 1752. Nach dem Tod von Äbtissin Theresa Wilhelmine von Polheim (Amtszeit 1743–1757) übernahm deren Vorgängerin wieder das Amt. Von 1771 bis 1775 erfolgte die Erneuerung der Turmobergeschosse durch Johann Georg Specht.
Eine schillernde Gestalt in der Endphase des Stifts stellte Frederike von Bretzenheim (1771–1816) dar. Sie war eine uneheliche Tochter des bayerischen Kurfürsten Karl Theodor, trat bereits 1781 in die Gemeinschaft ein und wurde 1788 als 17-jährige zur Fürstäbtissin gewählt. 1796 gab sie ihr Amt zurück und heiratete den Grafen Max Friedrich von Westerholt. Ihre Lebensgeschichte inspirierte Horst Wolfram Geissler zu dem bekannten Roman „Der liebe Augustin“.
Das Stift wurde wie die meisten anderen geistlichen Einrichtungen in Bayern 1802 säkularisiert. Seine Besitzungen standen zum Verkauf. Der Großteil des Inventars und die wertvolle Bibliothek kamen zu Schleuderpreisen unter den Hammer. Die fünf noch verbliebenen Stiftsdamen erhielten eine großzügige Pension von 800 Gulden im Jahr. Zusammen mit der Reichsstadt Lindau fiel das aufgelöste Stift an Fürst Karl August von Bretzenheim, einem Bruder der einstigen Äbtissin, der seinen Besitz jedoch schon zwei Jahre später an Österreich übertrug und dafür Ländereien in Böhmen und Ungarn erhielt. Nach dem Frieden von Pressburg 1805 kam Lindau an Bayern. In die Stiftsgebäude (1975/76 durch den westlichen Teil des Nordflügels ergänzt) zog das königliche bayerische Bezirksamt ein; als Amtsnachfolger residieren hier heute das Landratsamt und das Amtsgericht. In den Festsaal wurde Mitte des 19. Jahrhunderts eine Zwischendecke eingezogen, die bei der Restaurierung 1994/95 wieder entfernt wurde. Die Stiftskirche dient seit 1813 als katholische Pfarrkirche. Nach einem Brand 1922 erhielt das Langhaus eine eingezogene Decke, die jedoch 1987 einstürzte. Von 1990 bis 1993 wurde der gesamte Innenraum restauriert und das originale barocke Deckengemälde aus kleinsten Fragmenten rekonstruiert. In der 2002 zum Münster erhobenen ehemaligen Stiftskirche erinnern heute die aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stammende Ausstattung und viele Grabmonumente an das einstige Lindauer Damenstift und seine Bewohnerinnen.
Christine Riedl-Valder