Jüdisches Leben
in Bayern

um 903: Raffelstettener Zollordnung

Raffelstettener Zollordnung, um 904. Erhaltene Abschrift in: Sog. Lonsdorfer Kodex des Passauer Bischofs Otto von Lonsdorf (um 1260), fol. 58 und 59. Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Hochstift Passau Inneres Archiv 5. Aus: Monumenta Germaniae Historica, Capitularia II, Bd. 2: Addimenta ad Capitularia Regum Orientalis, Nr. 253, S. 249-253.


Vorbemerkung

Im frühen 10. Jahrhundert häuften sich im Osten des Stammesherzogtums Baiern die Klagen über ungerechtfertigte Zölle. Daher wurde Markgraf Arbo (ca. 850-910) vom ostfränkischen König Ludwig "dem Kind" (reg. 900-911) beauftragt, eine Rechtsfindung über die bislang ungeschriebenen Zollgebühren im Bistum Passau anzufertigen. Zu jener Zeit umfasste das Bistum auch große Teile von Ober- und Niederösterreich bis nach Wien. Salz bildete die wichtigste Handelsware und wurde bereits mit speziell gebauten Transportschiffen auf der Donau und ihren Nebenflüssen transportiert.

Arbo versammelte alle betroffenen Machthaber in Raffelstetten bei Linz. Er leitete die Versammlung zusammen mit drei weiteren hochrangigen Persönlichkeiten: Erzbischof Theotmar / Dietmar I. von Salzburg (reg. 874-907), Bischof Burkhard von Passau (reg. 903-915) und Graf Otakar (✝907), Arbos Schwiergersohn.

Nach dem Ausstellungsort wird die beurkundete Rechtsfindung als "Raffelstettener Zollordnung" bezeichnet. Es hat sich zwar nur eine Abschrift aus dem 13. Jahrhundert erhalten, aber diese liefert wertvolle Informationen zum weit ausgreifenden Fernhandel im Donauraum: Sie erwähnt landsässige Bayern und Slawen aus dem Herzogtum, Slawen aus Böhmen sowie "Rugier", wahrscheinlich Kaufleute aus dem Kiewer Rus.

Die Raffelstettener Zollordnung ist außerdem der früheste archivalische Nachweis für die Anwesenheit von Juden auf dem Gebiet des heutigen Freistaats Bayern. Die verwendete Formulierung "Iudei et ceteri mercatores" (Juden und andere Händler) ist für karolingische Schriftquellen typisch und belegt, dass Juden als die Kaufleute schlechthin gegolten haben. Unter den befragten Rechtskundigen befanden sich auch "Ysak" (Isaak) und "Salaman" (Salomon). Vielleicht waren sie einflussreiche Fernhändler oder sogar Rabbiner, die in ihrer richterlichen Funktion an der Beratung teilnahmen.

Quellentext

Noverit omnium fidelium orthodoxorum, presentium scilicet ac futurorum, industria, qualiter questus clamorque cunctorum Bawariorum, episcoporum videlicet, abbatum ac comitum omniumque, qui in orientales partes iter habebant, ante Hlodowicum regem venerant dicentes se iniusto theloneoet iniquia muta constrictos in illis partibus et coartatos.

Es sei allen eifrigen Rechtgläubigen in Gegenwart und Zukunft die Klage und das Missfallens aller Bayern bekannt, nämlich der Bischöfe und Äbte und Grafen und all jener, die in der [bayerischen] Ostmark auf [Handels-]Reisen gingen, wie sie dem König Ludwig ihre Verehrung bezeugten und sagten, dass sie in jenen Gebieten ungerecht besteuert und unrechtmäßig eingesperrt worden seien.

Ille vero secundum morem antecessorum regum hoc benignis auribus audiens Arboni marchioni precepit, quatenus cum iudicibus orientalium, quibus hoc notum fieret, investigaret ad iura thelonica modumque thelonii exploraret; nuntios suos Theotmarum archiepiscopum, Purchardum Pataviensis ecclesie presulem et Otacharium comitem dedit, ut hoc in suo loco iuste legitimque corrigerent.

Als er dies jedoch mit freundlichen Ohren vernommen hatte, befahl er dem Markgrafen Aribo gemäß dem Brauch seiner königlichen Vorfahren, dass dieser mit den richterlichen Gewalthabern im Osten, die von dieser Sache Kenntnis hatten, die Zollgesetze und Zollgebühren untersuchen solle. Er sandte seine Boten zum Erzbischof Theotmar, zu Burkhard, dem Priester der Kirche von Passau, und zum Grafen Otakar, damit sie dies [Unrecht] an seiner Stelle recht und billig beheben könnten.

Et isti sunt, qui iuraverunt pro theloneo in comitatu Arbonis: Walto vicarious, Durinc vicarious, Gundalperht, Amo, Gerpreht, Pazrich, Diotrich, Ashcrich, Arbo, Tunzili, Salacho, Helmwin, Sigimar, Gerolt, Ysac, Salaman, Humperht, item Humperht, Engilschalh, Azo, Ortimuot, Ruothoh, Emilo, item Durinc, Reinolt, Eigil vicarius, Poto, Eigilo, Ellinger, Otlant, Gundpold, item Gerolt, Otpehrt, Adalhelm, Tento, Buoto, Wolfker, Rantolf, Kozpehrt, Graman, Heimo.

Und diese sind es, die in der Grafschaft des Aribo [im Traungau] ihre Aussage zum Zoll gemacht haben: Der Vikar Walto, der Vikar Durinc, Gundalbert, Amo, Gerbrecht, Patrick, Dietrich, Aschrich, Arbo, Tunzili, Salacho, Helmwein, Sigmar, Gerolt, Isaak, Salomon, Humperht, noch ein Humperht, Engilschalck, Azo, Ortmuth, Ruothoh, Emilo, noch ein Durinc, Reinold, der Vikar Eigil, Poto, Eigilo, Ellinger, Otlant, Gundpold, noch ein Gerolt, Otpehrt, Adalhelm, Tento, Buoto, Wolfker, Rantolf, Kozpehrt, Graman, Heimo.

Isti et ceteri omnes, qui in hiis tribus comitatibus nobiles fuerunt, post peractum iuramentum interrogati ab Arbone marchione in presentia Theotmari archiepiscopi et Purchardi presulis Pataviensis ecclesie, residente cum eis Otachario comite, in ipso placito in loco, qui dicitur Raffoltestetun, retulerunt loca thelonio et modum theolonei, qualiter temporibus Hludwici et Karlomanni ceterorumque regum iustissime exolvebatur.

Diese und alle weiteren Adeligen der drei Grafschaften berichteten unter Eid, befragt vom Markgrafen Aribo, in Anwesenheit des Erzbischofs Theotmar von Salzburg und Bischof Burkhard von Passau, mit dem bei ihnen residierenden Grafen Otakar, an jenem bestimmten Ort namens Raffelstein, über die Zollstationen und die Zollgebühren, wie man sie zu Zeiten Ludwigs und Karlmanns und anderer Könige auf das gerechteste bezahlte.

(1) Naves vero, que ab occidentalibus partibus, postquam egresse sint silvam Patavicam, et ad Rosdorf vel ubicumque sedere voluerint et mercatum habere, donent pro theloneo semidragmam, id est scoti I; si inferius ire voluerint ad Lintzam, de una navi reddant IIII semimodios, id est III scafilos de sale. De mancipiis vero et ceteris aliis rebus ibi nichil solvent, sed postea licentiam sedendi etc mercandi habeant usque ad silvam Boemicam, ubicunque voluerint.

Schiffe aus dem Westen geben jenseits des Passauer Waldes zu Rosdorf, oder wo immer sie anlegen und Markt halten wollen, als Zoll einen Skot Silber [ca. 30 karolingische Pfennige]. Fahren sie weiter den Fluss hinab, müssen sie zu Linz für jedes beladene Schiff drei Halbmaß Salz geben. Für Sklaven und andere Waren zahlen sie nichts. Dafür erhalten sie bis zum Böhmerwald die Erlaubnis, jederzeit anzulegen und zu handeln.

(2) Si aliquis de Bawaris sal suum ad propriam domum suam transmittere coluerit, gubernatore navis hoc adprobante cum iuramento, nichil solvant, sed seecuriter transeant.

Wenn jemand aus dem Bayernland Salz für den eigenen Hausgebrauch transportiert, so braucht er keinen Zoll bezahlen, sofern der Steuermann des Schiffes dies unter Eid bestätigen kann, und sie sollen diesen nicht aufhalten, sondern sicher weiterziehen lassen.

 (3) Si autem liber homo aliquis ipsum legittimum mercatum transierit nichil bi solvens vel loquens et inde probatus fuerit, tollatur ab eo et navis et substantia. Si autem servus alicuius hoc perpetraverit, constringatur ibidem, donec dominus eius veniens dampnum persolvat, et postea ei exire liceat.

Wenn aber ein freier Mann seine Waren am rechtmäßigen Markt nicht verzollt hat, werden ihm, im Falle dass er überführt wird, Schiff und Waren abgenommen. Wenn aber jemands Knecht dasselbe tut, so wird er festgehalten, bis sein Herr ihn auslöst, dann darf er seines Weges ziehen.

(4) Si autem Bawari vel Sclavi istius patrie ipsam regionem intraverint ad emenda victualia cum mancipiis vel cavallis vel bobus vel ceteris suppellectilibus suis, ubicunque voluerint in ipsa regione, sine theloneo emant, que necessaria sunt. Si autem locum mercati ipsius transire voluerint, per mediam plateam transeant sine ulla constriction; et in aliis locis ipisius regionis emant sine theloneo, que potuerint. Si eis in ipso mercato magis complaceat mercari, donent prescriptum theloneum et emant, quecunque voluerint et quanto melius potuerint.

Wenn aber Bayern und Slawen aus diesem Land, die mit ihren Sklaven, Pferden, Ochsen oder anderen Gütern zum Kauf von Lebensmittel in diese Region kommen, dürfen sie wo auch immer sie wollen zollfrei kaufen, was sie brauchen. Wenn sie aber die Marktorte passieren wollen, sollen sie auf der Hauptstraße ebenfalls ohne Behelligung weiterziehen. Wenn sie aber auf dem Markt handeln wollen, haben sie den vorgeschriebenen Zoll zu entrichten und können dann kaufen, was sie wollen und so viel sie vermögen.

(5) Carre autem salinarie, que per stratam legittimam Anesim fluvium transeunt, ad Urulam tantum unum scafil plenum exsolvant et nichil amplius exsolvere cogantur. Sed ibi naves, que de Trungowe sunt, nichil reddant, sed sine censu transeant. Hoc de Bawaris observandum est.

Salztransporte jedoch, die auf dem rechtmäßigen Handelsweg den Fluss Ybbs überqueren, brauchen nur an der Url einen vollen Scheffel Salz [als Zoll] abgeben. Schiffe, die aus dem Traungau kommen, dürfen dort ohne Zins weiterfahren. Dies ist bei den Bayern zu beachten.

(6) Sclavi vero, qui de Rugis vel de Boemanis mercandi causa exeunt, ubicunque iuxta ripam Danubii vel ubicunque in Rotalariis vel in Reodariis loca mercandi optinuerint, de sogma una de cera duas massiolas, quarum utraque scoti unum valeat; de onere unius hominis massiola una eisudem precii; si vero mancipia vel cavallos vendere voluerit, de una ancilla tremisam I, de cavallo masculino similiter, de servo saigam I, similis de equa. Bawari vero vel Sclavi istius patrie ibi ementes vel vendentes nichil solver cogantur.

Slawen, die von den [Stämmen] der Rugier oder Böhmer ausziehen, um zu handeln, sollen wahrlich überall dort, wo sie Handelsplätze am Donauufer oder bei den Bewohnern der Rodel [Rodel im Mühlviertel] oder den Riedmärkten [Ried im Innkreis oder Riedmark] finden, für eine Saumtierlast vom Wachs zwei Klumpen geben, von denen jeder einen Skot Silber [ca. 30 karolingische Pfennige] wert sein soll; für die Traglast eines Mannes einen Klumpen im selben Wert; Händler die Sklaven oder Pferde verkaufen wollen, geben für eine Magd eine Tremissis [kleine spätantike Goldmünze im Werte eines 1/3 Solidus), ebenso für einen Hengst; für einen Knecht muss der Händler eine Saiga [merowingische Silbermünze im Werte eines 1/12 Solidus] geben, ebenso viel für eine Stute. Aber die einheimischen Bayern oder Slawen, die dort kaufen oder verkaufen, dürfen nicht gezwungen werden etwas zu zahlen.

(7) Item de navibus salinariis, postquam silvam [Boaemicam] transierint, in nullo loco licentiam habeant emendi vel vendendi vel sedendi, antequam ad Eperaespurch perveniant. Ibi de unaqueque navi legittima, id est quam tres homines navigant, exsolvant de sale scafil III, nichilque amplius ex eis exigatur, sed pergant ad Mutarun vel ubicunque tunc temporis salinarium mercatum fuerit constitutum; et ibi similiter persolvant, id est III scafil de sale, nichilque plus; et postea liberam ac securam licentiam vendeni et emendi habeant sine ullo banno comitis vel constrictione alicuius persone; sed quantocunque meliori precio venditor et emptor inter se dare voluerint res suas, liberam in omnis habeant licentiam.

Ebenso dürfen die Salzschiffe, nachdem sie durch den [Böhmer-]Wald gefahren sind, keine Erlaubnis haben, zu kaufen oder zu verkaufen oder an irgendeinem Ort zu bleiben, bevor sie in Ebersburg ankommen [wohl abgegangene Burg, vlt. Ybbsburg?]. Dort zahlt jedes legitime Schiff, also eines das von drei Männern gesteuert wird, drei Scheffel Salz [als Zoll] abgeben. Es darf nicht mehr gefordert werden und sie sollen vielmehr nach Mautern [a.d. Donau], oder wo gerade Salzmarkt gehalten wird, weiterfahren. In Mautern sollen sie ebenfalls drei Scheffel Salz abgeben. Aber zu welchem ​​günstigeren Preis der Verkäufer und der Käufer sich auch gegenseitig ihre Waren geben möchten, sie haben in jeder Hinsicht freie Lizenz.

(8) Si autem transire voluerint ad mercatum Marahorum, iuxta estimationem mercationis tunc temporis exsolvat solidum I de navi et licenter transeat; revertendo autem nichil cogantur exsolvere legittimum.

Wenn sie [die Salzschiffe] aber zum Markt der Mährer [nach Mähren, heute östliches Tschechien] gelangen wollen, hat der Schiffer nach Schätzung der jeweiligen Marktbehörde einen Solidus [spätantike Goldmünze und Währungseinheit] je Schiff zu zahlen und danach darf er frei weiterziehen; Aber wenn sie zurückkehren, sind sie nicht verpflichtet, das zu zahlen, was rechtmäßig ist.

(9) Mercatores, id est Iudei et ceteri mercatores, undecunque venerint de ista patria vel de aliis patriis, iustum theloneum solvent tam de mancipiis, quam de aliis rebus, sicut semper in prioribus temporibus regum fuit.

Kaufleute, das sind Juden und andere Kaufleute, ganz gleich ob sie aus diesem Lande oder einem anderen kommen, sollen für Sklaven und andere Güter den gerechten Zoll zahlen, wie es schon immer unter den vorhergehenden Regierungszeiten der Könige üblich war.

(Edition von Martin Stermitz | Vorbemerkung und Übersetzung von Patrick Charell)