Concilium Lateranense IV, 11. bis 30. November 1215. Aus: Conciliorum Oecumenicorum Decreta. Hg. v. Giuseppe Alberigo u.a. 3. Aufl. Bologna 1973, S. 227-271.
Vorbemerkung
Am 19. April 2013 berief Papst Innozenz III. (reg. 1198–1216) die gesamte Amtskirche zu einer Generalsynode in Rom ein. Als Schauplatz wählte er den Sitz der Bischöfe von Rom, die Basilika San Giovanni in Laterano. Das "IV. Laterankonzil" gilt als größte Kirchenversammlung des Mittelalters: Zur Eröffnung am 11. November 1215 erschienen 71 Patriarchen und Metropoliten, über 400 Bischöfe, mehr als 800 Äbte und Prioren sowie viele Diplomaten.
Das Konzil verabschiedete wichtige strukturelle Reformen im kirchlichen Verfahrensrecht, stärkte die Ordensdisziplin in den Klöstern und verbesserte die Ausbildung zukünftiger Seelsorger in den Diözesen. Unter anderem wurde der Handel mit Reliquien unter Strafe gestellt. Das wichtigste Thema war jedoch der Aufruf zum Kreuzzug, um Jerusalem von den muslimischen Ayyubiden-Dynastie zurückzuerobern. In dieser aufgeheizten Stimmung wurden neue antjüdische Gesetze beschlossen (Canon 67-70).
Juden wurden in ihrem Zinsgeschäft eingeschränkt und durften kein kommunales Amt mehr ausüben. Sie mussten die Kirche für "entgangene" Einnahmen entschädigen (taxa stola, dt. Neujahrsgeld). Zum Christentum übergetretende Juden sollten mit allen Mitteln daran gehindert werden, wieder ihren alten Glauben zu praktizieren.
Um jeden sexuellen Kontakt zwischen Christen und Juden zu unterbinden, ordnete das Konzil zusätzlich eine diskriminierende Kennzeichnung an: "Statuimus ut […] qualitate habitus publice ab aliis populis distinguantur" (Wir verfügen, dass [sie] sich in der Öffentlichkeit durch eine besondere Kleidung von anderen Völkern unterscheiden sollen). Erst der sogenannte Schwabenspiegel, eine um 1270 angelegte Rechtssammlung der römisch-deutschen Kaiser, präzisierte diese Anordnung: "Die Juden sollen spitze Hüte tragen; damit sind sie bezeichnet vor den Christen, damit man sie als Jude erkennen soll". Die wohl auch aus Gründen einer ängstlichen Seelsorge erlassenen Bestimmungen gegen Juden trugen auf Jahrhunderte hinaus zu ihrer entmenschlichenden Ausgrenzung im christlichen Europa bei.
Quellentext
Canon 67. De usuris Iudaeorum
Quanto amplius christiana religio ab exactione compescitur usurarum tanto gravius super his Iudaeorum perfidia inolescit ita quod brevi tempore christianorum exhauriunt facultates. Volentes igitur in hac parte prospicere christianis ne a Iudaeis immaniter aggraventur synodali decreto statuimus ut si de caetero quocumque praetextu Iudaei a christianis graves et immoderatas usuras extorserint christianorum eis participium subtrahatur donec de immoderato gravamine satisfecerint competenter. Christiani quoque si opus fuerit per censuram ecclesiasticam appellatione postposita compellantur ab eorum commerciis abstinere. Principibus autem iniungimus ut propter hoc non sint christianis infesti sed potius a tanto gravamine Iudaeos studeant cohibere. Ac eadem poena Iudaeos decernimus compellendos ad satisfaciendum ecclesiis pro decimis et oblationibus debitis quas a christianis de domibus et possessionibus aliis percipere consueverant antequam ad Iudaeos quocumque titulo devenissent ut sic Ecclesiae conserventur indemnes.
Regel 67: Über den Wucher der Juden
Je mehr die Christenheit vom Wucherhandel abgehalten wird, desto tiefer verwurzelt sich die Unredlichkeit der Juden, mit der sie das Vermögen der Christen in kurzer Zeit erschöpfen. In dem Wunsch, Christen in dieser Sache vor der grausamen Ausbeutung durch die Juden zu schützen, bestimmen wir in diesem Dekret: Wenn in Zukunft Juden unter irgendeinem Vorwand von Christen ausbeuterische und unmäßige Zinsen erpressen, soll ihnen die Zusammenarbeit der Christen verweigert bleiben, bis sie für ihre Unmäßigkeit eine angemessene Genugtuung geleistet haben. Auch sollen Christen, wenn Ermahnungen nichts fruchten, notfalls mit einer Kirchenstrafe dazu gezwungen werden, sich jeglichen Handels mit ihnen zu enthalten. Den Fürsten jedoch befehlen wir, Christen gegenüber aus diesem Grunde nicht feindselig zu sein, sondern sich vielmehr darum zu bemühen, Juden an solcher Schädigung zu hindern. Und wir verfügen, dass Juden durch die gleiche Strafe zur Entschädigung der Kirchen [d.h. Pfarreien] verpflichtet sein sollen, für die Zehntsteuern und Opfergaben, welche von den Christen aus ihren Häusern und anderem Besitz gegeben wurden, bevor jene Besitztümer aus egal welcher Ursache in die Hände der Juden gelangt sind, damit die Kirchen schadlos gehalten werden.
Canon 68. Ut Iudaei discernantur a christianis in habitu
In nonnullis provinciis a christianis Iudaeos seu Saracenos habitus distinguit diversitas sed in quibusdam sic quaedam inolevit confusio ut nulla differentia discernantur. Unde contingit interdum quod per errorem christiani Iudaeorum seu Saracenorum et Iudaei seu Saraceni christianorum mulieribus commisceantur. Ne igitur tam damnatae commixtionis excessus per velamentum erroris huiusmodi excusationis ulterius possint habere diffugium statuimus ut tales utriusque sexus in omni christianorum provincia et omni tempore qualitate habitus publice ab aliis populis distinguantur cum etiam per Moysen hoc ipsum legatur eis iniunctum. In diebus autem lamentationis et dominicae passionis in publicum minime prodeant eo quod nonnulli ex ipsis talibus diebus sicut accepimus ornatius non erubescunt incedere ac christianis qui sacratissimae passionis memoriam exhibentes lamentationis signa praetendunt illudere non formidant. Illud autem districtissime inhibemus ne in contumeliam redemptoris prosilire aliquatenus praesumant. Et quoniam illius dissimulare non debemus opprobrium qui probra nostra delevit praecipimus praesumptores huiusmodi per principes saeculares condignae animadversionis adiectione compesci ne crucifixum pro nobis praesumant aliquatenus blasphemare.
Regel 68: Dass sich Juden von den Christen in der Kleidung unter scheiden sollen
In einigen Provinzen unterscheidet sich die Kleidung der Juden oder Sarazenen [Muslime] von den Christen, aber in anderen ist eine solche Verwirrung entstanden, dass sie durch keinen Unterschied unterschieden werden können. So kommt es manchmal vor, dass sich Christen irrtümlicherweise mit jüdischen oder sarazenischen Frauen und Juden oder Sarazenen mit christlichen Frauen vereinen. Damit die Auswüchse einer solch verdammenswerten Vermischung unter dem Schleier des Irrtums keine weitere Entschuldigung dieser Art haben können, verfügen wir, dass in jeder christlichen Provinz und zu jeder Zeit solche Juden und Sarazenen beiderlei Geschlechts in der Öffentlichkeit durch eine besondere Kleidung von anderen Völkern unterscheiden sollen. Insbesondere, da in den Schriften Moses zu lesen ist, dass ihnen genau dieses Gesetz auferlegt wurde. Darüber hinaus dürfen sie in den letzten drei Tagen vor Ostern und besonders am Karfreitag überhaupt nicht in die Öffentlichkeit gehen, weil einige von ihnen, wie wir hören, an diesen Tagen ohne Scham besonders gut gekleidet einherschreiten, und sich nicht scheuen die Christen zu verhöhnen, welche durch das Tragen von Trauerkleidung die Erinnerung an die heiligste Passion [Jesu Christi] bewahren. Dies verbieten wir jedoch aufs Schärfste, dass es irgendjemand auch nur wagen solle, den Erlöser zu beleidigen. Und da wir jede Beleidigung desjenigen, der unsere Sünden ausgelöscht hat, nicht ignorieren dürfen, befehlen wir, dass solche anmaßenden Menschen von den weltlichen Fürsten durch angemessene Strafen im Zaum gehalten werden, damit sie sich überhaupt nicht anmaßen, den zu lästern, der für uns gekreuzigt wurde.
Canon 69. Ne Iudaei publicis officiis praeficiantur
Cum sit nimis absurdum ut Christi blasphemus in christianos vim potestatis exerceat quod super hoc Toletanum concilium provide statuit nos propter transgressorum audaciam in hoc capitulo innovamus prohibentes ne Iudaei officiis publicis praeferantur quoniam sub tali praetextu christianis plurimum sunt infesti. Si quis autem officium eis tale commiserit per provinciale concilium quod singulis praecipimus annis celebrari monitione praemissa districtione qua convenit compescatur. Officiali vero huiusmodi tamdiu christianorum communio in commerciis et aliis denegetur donec in usus pauperum christianorum secundum providentiam dioecesani episcopi convertatur quicquid fuerit adeptus a christianis occasione officii sic suscepti et officium cum pudore dimittat quod irreverenter assumpsit. Hoc idem extendimus ad paganos.
Regel 69: Dass Juden keine öffentlichen Ämter bekleiden sollen
Da es absurd ist, dass ein Lästerer Christi Autorität über Christen ausübt, erneuern wir angesichts der Unverfrorenheit der Übertreter in diesem Generalkonzil, was die Synode von Toledo [im Jahr 589] in dieser Angelegenheit klugerweise beschlossen hat und verbietet, dass Juden bei der Vergabe öffentlicher Ämter berücksichtigt werden, weil sie in dieser Machtposition den Christen am meisten zu schaffen machen. Wenn ihnen aber jemand ein solches Amt anvertraut, soll er nach vorhergehender Ermahnung durch eine angemessene Strafe auf den rechten Weg gebracht werden, wie es der Provinzialsynode, deren jährliche Zusammenkunft wir anordnen, angemessen erscheint. Dem [jüdischen] Beamten soll jedoch der kommerzielle und jeder sonstige Umgang mit Christen verweigert werden, bis er gemäß dem Urteil des Bischofs alles, was er seit seinem Amtsantritt von den Christen erworben hat, für die Bedürfnisse der christlichen Armen zurückgegeben hat, und er soll das Amt, welches er ohne Ehrfurcht angenommen hat, in Schande verlieren. Dasselbe erstrecken wir auch auf Heiden.
Canon 70. Ne conversi ad fidem de Iudaeis veterem ritum Iudaeorum retineant
Quidam sicut accepimus qui ad sacri undam baptismatis voluntarii accesserunt veterem hominem omnino non exuunt ut novum perfectius induant cum prioris ritus reliquias retinentes christianae religionis decorem tali commixtione confundant. Cum autem scriptum sit maledictus homo qui terram duabus viis ingreditur et indui vestis non debeat lino lana que contexta statuimus ut tales per praelatos ecclesiarum ab observantia veteris ritus omnimodo compescantur ut quos christianae religioni liberae voluntatis arbitrium obtulit salutiferae coactionis necessitas in eius observatione conservet. Cum minus malum existat viam domini non agnoscere quam post agnitam retroire.
Regel 70: Dass die zum rechten Glauben konvertierten Juden nicht in den jüdischen Ritus zurückfallen
Wir erkennen, dass einige [Juden], die sich freiwillig dem Wasser der heiligen Taufe näherten, den alten Mann nicht vollständig ablegen, um den neuen umso vollkommener anzuziehen, weil sie Reste des früheren Ritus beibehalten und durch diese Vermischung den Glanz der christlichen Religion verdunkeln. Aber da geschrieben steht: Verflucht ist der Mann, der auf zwei Wegen geht, und "Du sollst nicht anziehen ein Kleid, das aus Wolle und Leinen zugleich gemacht ist" [5. Mose 22,11], verfügen wir, dass solche Personen – da sie aus freiem Willen die christlichen Religion angenommen haben – von den Prälaten in jeder Hinsicht von der Einhaltung des früheren Ritus abgehalten werden sollen, damit heilsame Zwangsmaßnahmen sie in ihrer Einhaltung bewahren; weil es ein geringeres Übel ist, den Weg des Herrn nicht zu kennen, als von ihm wider besseren Wissens abzuweichen.
(Vorbemerkung und Übersetzung von Patrick Charell)