Brief von Sara Floß aus Baltimore an die verwaisten Neffen und Nichten in Hürben, dat. 24. Februar 1852. Beglaubigte Übersetzung aus dem Hebräischen von Rabbiner Hayum Schwarz, dat. 02. Mai 1852. Aus: Peter Maidl: Überseewanderung bayerisch-schwäbischer Juden. In: Peter Fassl (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben II. Neuere Forschungen und Zeitzeugenberichte. Stuttgart 2000 (= Irseer Schriften 5), S. 87-113, hier 93f.
Vorbemerkung
Im Lauf des 19. Jahrhunderts schrumpfte die jüdische Bevölkerung auf dem Lande durch eine vermehrte Auswanderung nach Amerika. Einen Höhepunkt erreichte diese deutsche Emigration nach der gescheiterten Märzrevolution von 1848/49, an der sich auch viele Juden beteiligt hatten. Das Durchschnittsalter lag bei ihnen wesentlich niedriger als bei Christen, es wanderten deutlich weniger Eltern mit Kindern aus, dafür ließen sich häufiger ganze Familienverbände am gleichen Ort nieder.
Die besondere Rolle der Schriftkultur, die Heinrich Heine als "portatives Vaterland" des Judentums bezeichnete, hat erheblich zum schnellen und effizienten Aufbau eines transkontinentalen Netzwerkes beigetragen. Nachdem sich die ersten mutigen Pioniere in Amerika etabliert hatten, gaben sie emigrationswilligen Jüdinnen und Juden im "Alten Land" praktische Anleitungen und organisierten Hilfe vor Ort. Dieses Netzwerk erklärt auch den hohen Anteil der "Nachfolgewanderung", wenn mit der Zeit ganze Familienverbände die Reise über den Atlantik antraten. Die bevorzugten Häfen waren zunächst Le Havre in der Normandie, später vor allem Bremen und Hamburg.
Es lässt sich heute nicht mehr feststellen, wann der erste Jude aus dem schwäbischen Krumbach-Hürben seine Heimat in Richtung Amerika verließ. Als jedoch am 7. September 1851 der verwitwete Pferdehändler Isaak Gump verstarb und fünf unmündige Kinder hinterließ, entschlossen sich auch die 20jährige Jette Gump und ihr jüngerer Bruder Mathias "Max" Gump dazu, in die USA nach Baltimore auszuwandern.
Die Hafenstadt Baltimore (Maryland) hatte sich ab 1825 zu einem wichtigen Zentrum für jüdische Emigranten entwickelt. Der bayerische Rabbiner Abraham Joseph Reiss (1802-1862) gründete dort zwei Synagogen und die erste Jeschiwa des Landes. In Baltimore lebten bereits seit einigen Jahren Isaaks Geschwister Sarah verh. Floß und der Kaufmann Simon Gump. Sie wollten die Kinder ihres verstorbenen Bruders gerne bei sich aufnehmen, hatten jedoch zunächst nur Platz für Max und Jette. Diese beantragten am 7. Mai 1852 einen Reisepass. Um sicherzugehen, dass die jungen Auswanderer auch ein Obdach vorfinden, verlangten die Behörden entsprechende Zusagen der Verwandten. Rabbiner Hayum Schwarz (1800-1875) übersetzte daher als zuständige Amtsperson den hebräischen Briefwechsel in die deutsche Sprache.
Als "Auswandererschiffe" dienten umgebaute Segelschiffe und ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend Dampfboote. Auf den überbelegten Schiffen gab es fast keinen Komfort. Für allein reisende Frauen war der Mangel an Hygiene und Privatsphäre eine große Belastung. Dies wird im Brief durch die ernste Ermahnung deutlich, dass sich Jette Gump "den Charakter bewahren", also keine Beziehung mit einem Mann haben solle.
Dank ihrer Verwandten konnten die Geschwister in Baltimore Fuß fassen. Max Gump wurde später ein erfolgreicher Pelzhändler und lebte im eleganten, jüdisch geprägten Stadtteil Bolton Hill (1923 Eutaw Place). Seine Söhne gründeten einen Großhandel für Spirituosen und Liköre. Noch immer leben direkte Nachkommen der Familie Gump in Maryland.
Quellentext
[…] Noch nie ergriff ich die Feder an euch zu schreiben mit so tief betrübtem Herzen, wie soll ich Worte finden euch zu trösten da ich selbst nicht gefaßt u. nicht getröstet bin, hart ist der Schlag u. noch härter da wir nicht vorbereitet sein [sic] doch tröstet euch, meine theuern die Zeit, die alle Wunden heilt, wird auch diese heilen, der Allgütige ist gut er verläßt Weisen nicht [sic], und hat noch nie die verzweifeln laßen, die auf ihn vertrauen. Drum Muth gefasst meine theuern, wen[n] Deutschland todt für Euch ist, so ist [es] nicht Amerika. So denkt, daß in Amerika ein warmes mütterliches Herz für Euch schlägt, ja ich gelobe Euch, so lange ich einen bissen Brod habe, daß ich es mit euch theilen will, euch mit offenen Armen empfangen werde, und mein Haus soll ein Willkommen Platz für euch sein, wen[n] es euer Wunsch ist vortzugehen.
Die Wege Gottes sind uns unergründlich, es mag l[iebe] Jette zu deinem Wohle sein. Ich kann[n] dir das Glück in Amerika nicht geben, es ist auch nicht alles Gold was glänzt, man findet das Geld auch nicht auf der Straße, man muß arbeiten, in Deutschland spielen die Reiche[n] Leute Herrschaften, hier nicht, wer anfangs in Amerika lebt mißt das deutsche gesellige Leben, ich habe seid ich in Amerika bin gearbeitet, so auch mein Man[n], ich kön[n]te euch Leute anführen, die es nicht getan haben u. haben es auch nicht weit gebracht. – ich sage euch daß blos daß ihr euch kein so glänzendes Bild von Amerika macht.
Das Max und Jette kom[m]t ist mir recht lieb u. wir werden gewiß alles thun, doch die anderen müßen sich noch gedulden, ich kön[n]te sie gar nicht unterbringen, den[n] ich habe noch zwei andere Kinder angenom[m]en, wen[n] Jette u. Max kom[m]t ist gerade so viel wie unser Haus halten kann[n], den[n] wir haben sehr viele Leute in unser Haus doch läßt Max u. Jette gut thun u. wir wollen sie bald alle haben.
Liebe Kinder kom[m]t direkt nach Baltimore wen[n] ihr landet holen wir euch u. findet uns dort auf der Stelle. Schreibt uns wen[n] ihr von zu Hause abreißt, schreibt uns von der Seestadt mit dem Dampf-Schiffe wie das Schiff heißt, wie der Kapitän heißt, ob es ein deutscher oder ein Baltimore Kapitain ist, ohne Zweifel ken[n]t er uns doch. L[iebe] Jette lasse mich als Mutter als Freundin dich aufmerksam machen, sei auf der Hut, bewahre deinen Charakter den[n] das ist das einzige, was ein Mädchen sein Glück in Amerika begründet, u. in verkehrten Falle ein Mädchen in ewiger Verderben reißt, den[n] das Mädchen daß nicht besonders auf dem Schiffe delikat ist, ist es wie ausgetrommelt über ganz Baltimore.
Wen[n] Ihr Landet in Baltimore zieht euch schön u. sauber an, reist Glücklich, der liebe Gott sei mit Euch und schütze euch, vertragt euch, gebt acht einer auf den anderen, seid guten Muthes, der liebe Gott hülft euch gewiss. Mit dem Wunsche recht Wohl zu Leben schließt Eure tiefbetrübte Tante Sara.
Umstehende Abschrift der hebräischen Briefe aus Amerika dd Baltimore d. 24. Febr. 1852 /: Mit Hinweglassung einiger minderwichtiger Stellen :/ wird hiermit beglaubigt. Hürben, 2. Mai 1852. Das Rabbinat, H. Schwarz Rabbiner
(Edition von Peter Maidl | Vorbemerkung von Patrick Charell)
Herbert Auer vom Heimatverein Krumbach e.V. bietet weitere Informationen zur Auswanderung aus Hürben.