Um 1500 werden in einem Würzburger Urbar erstmals zwei Juden in Westheim erwähnt, die dem Fürstbischof für ihr Gehöft "gult und zins" zahlten: "Item Lewe jud gibt vier moß weins iii d[enarios] von einer hoffstat zu Westheym" und "item Seylikman jud viii moß weins vi d[enarios] von einer hof stat zu Westheym". Seit dem Jahr 1508 unterstand das Dorf Westheim zwei Landesherrschaften, die Grenze verlief entlang der heutigen Westheimer Straße mitten durch den Ort. Der Osten gehörte der Abtei Fulda, der Westen dem Hochstift Würzburg. Dieses wiederum hatte bereits 1454 auf ihrer Seite dem ministerialen Adelsgeschlecht von Erthal einen Hof mit 20 Morgen Ackerland als erbliches Mannlehen übertragen; das bedeutete, dass dieses Lehen im Mannesstamm vererbt wurde.
Im Jahr 1655 lebten neun jüdische Familien mit 40 Personen unter dem Schutz der Erthaler. Dieser Schutz bestand aber auch darin, dass Juden nicht so ohne weiteres ihre Wohnstatt wechseln durften. Die Männer ernährten ihre Familie hauptsächlich durch Viehhandel und "bottziechen" (Hausieren) mit Silber, Zinn, Bett- und Schnittwaren und Kleidung – Berufe, die sie im Würzburger Amt Ebenhausen ausübten. Einige betätigten sich auch als Geldverleiher im Amt Trimberg, zu dem der Würzburger Anteil Westheims gehörte. Trotzdem war die allgemeine wirtschaftliche Situation eher bescheiden, die Familien besaßen laut einer Schuldnerliste des Jahres keine eigenen Getreide- oder Weinvorräte - nur Nathan Wolff hatte einen Würzburger Fuder (898,56 Liter) Jungwein in seinem Keller gelagert. Durch die geteilte Ortsherrschaft blieben die Westheimer Juden von einem Ausschaffungsedikt der Fürstabtei Fulda 1671 verschont, dafür zogen wohl mehrere vertriebene Familien neu hinzu: 1699 bewohnten insgesamt 100 jüdische Männer, Frauen und Kinder den Freihof.
In den "Judendesignationes" vom 28. Januar 1731 des Reichsritter-Kantons Rhön-Werra sind 22 Schutzjudenfamilien mit 48 Erwachsenen, 19 Jugendlichen über 13 Jahren und "schätzungsweise" 40 Kindern aufgelistet. Bis zu einer erneuten Erfassung im Jahr 1740 blieb diese Zahl mehr oder weniger konstant, bei den Berufen waren ein Gewürz- und ein Kramwarenhändler hinzugekommen, ein jüdischer Schlachter verkaufte in Würzburg. Neun Haushaltsvorstände galten als "arme Juden", die teils von der Gemeindefürsorge lebten und kein Schutzgeld zahlen konnten. Sie lebten in einem eigenen Armenhaus der Gemeinde. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts befand es sich entweder in einem Anbau an der Synagoge (heute Kellergasse 9), oder in einem östlich angrenzenden Nachbarhaus, das 1858 abgebrochen wurde. Der Urkatasterplan von 1847 veranschaulicht die unterschiedliche Bebauung im Dorf, die unmittelbar aus der geteilten Ortsherrschaft sowie der Ansiedelung von Schutzjuden hervorging. Während der östlichen Teil durch die Landwirtschaft geprägt wurde, mit größeren Abständen zwischen den Anwesen, Ställen und Schobern, schloss sich anch südwesten ein kleineres, meist dicht mit Reihen- und Doppelhäusern bebautes Ortsviertel an. Im Nordwesten und im Nordosten umschloss die rechtwinklig verlaufende "Judengasse" (heute Paulstraße/Petersgasse) dieses Viertel, das ab dem 18. März 1743 als Eruv (Schabbat-Bezirk) definiert war. Hier befand sich der Erthal’sche Freihof und die Einrichtungen der jüdischen Kultusgemeinde: Die Synagoge, ein Ritualbad, das bereits erwähnte Armenhaus und später die jüdische Schule. Zumindest 1777 existierte eine koschere Mehlhandlung und Bäckerei. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein lebte das Gros der Westheimer Juden zusammen mit christlichen Nachbarn in diesem Areal. Ihre Toten bestatteten sie zunächst auf dem jüdischen Friedhof in Pfaffenhausen/Hammelburg und ab 1672 auf dem neu angelegten Friedhof Euerbach, rund vier Gehstunden von Westheim entfernt. Ab 1761/1762 wurde auch Euerbach wieder genutzt.
1803 lebten neben den Erthal’schen noch weitere vierzehn Schutzjudenfamilien des Hochstifts in Westheim. Sie besaßen überwiegend eigene Häuser und zahlten zwischen 4 und 13 Rheinische Gulden Schutzgebühr. 1806 und dann endgültig 1814 fiel das gesamte Gebiet an das Königreich Bayern. Im Jahr 1817 trugen sich 43 jüdische Familienvorstände in die staatliche Matrikelliste ein. Dabei fällt auf, dass in mehreren Familien sowohl Eltern als auch bis zu drei Geschwister jeweils eigene Plätze belegten. Die meisten, nämlich vierzehn Familienväter arbeiteten als Viehhändler, sechs von ihnen wurden sogar als "Kapitalist" bezeichnet, außerdem waren allein sechs jüdische Metzger im Dorf ansässig. Die Übrigen lebten vom Waren- und Kramhandel, als Lumpenhändler, Bote und berufsmäßige Vermittler (Schmuser). Die Gemeinde gehörte dem Distriktsrabbinat Bad Kissingen an.
Die Kinder der Gemeinde gingen in die christliche Elementarschule, den Religionsunterricht erteilte ein Lehrer anscheinend in einem Privathaus. Er wurde nur von den Eltern bezahlt, die ihm auch abwechselnd Kost und Logis gewährten. Im Jahr 1829 prüfte die Schulbehörde die Verhältnisse und entschied, dass ein geeignetes Schulgebäude errichtet und die (staatlich geprüfte) Lehrkraft ein festes, von allen Gemeindemitgliedern finanziertes Salär zu erhalten habe. Vermutlich half sich die Gemeinde noch mit einem angemieteten Unterrichtsraum, denn erst 1834 erwarb sie das Anwesen Paulstraße 2 und richtete darin bis 1837 eine Israelitische Elementarschule ein. In den kommenden Jahrzehnten besuchten jährlich 20 bis 27 Kinder die Schule. Ebenfalls im Jahr 1829 hatte die allgemeine staatliche Untersuchung der Ritualbäder für die "Tauch" auf dem Anwesen Nr. 98 (Paulstraße 10) ein vernichtendes Urteil ergeben. Diese Quellwasser-Mikwe gab es bereits im 18. Jahrhundert und besteht noch heute, ihr Becken liegt in vier Metern Tiefe. Der Zugang lag "auf grund Ausübung seit unvordenklicher Zeit" auf dem Nachbargrundstück (Paulstraße 12). Bis 1835 entwickelte sich Westheim zur zahlenmäßig größten jüdischen Gemeinde im heutigen Landkreis Kissingen, mit Ausnahme von Kissingen selbst. Sie beschäftigte drei Gemeindebedienstete gleichzeitig. Die jüdischen Männer arbeiteten zwar zunehmend auch im "ordentlichen" Gewerbe und Handwerk, aber die meisten blieben im Kleinhandel und ihre Familien lebten in verhältnismäßiger Armut. So überrascht es nicht, dass gerade das dicht bevölkerte Westheim besonders von der großen Auswanderungswelle erfasst wurde, in der Tausende Bayern in der Fremde, vor allem in Nordamerika eine bessere Zukunft suchten. Trotzdem machten Juden 1855 noch immer 36 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Ab der zweiten Jahrhunderthälfte waren sie wie selbstverständlich in den Alltag integriert, teilten sich die Rechte und Pflichten ihrer christlichen Nachbarn, ihre Geschäfte prägten das Stadtbild. Im April 1872 weihte die Kultusgemeinde den moderneren Neubau ihrer Elementarschule ein. Bis Januar 1889 aktualisierte die Kultusgemeinde auf Anraten des Bezirksamtes seine alte Satzung und gab sich neue Statuten. Eine neue Synagogenordnung, die den modernen ruhigeren Gottesdienst vorschrieb, wurde 1893 verabschiedet.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die jüdischen Gemeindemitglieder fest im Dorfleben integriert, gehörten den verschiedenen Vereinen und der Freiwilligen Feuerwehr an, sie wurden in den Gemeinderat gewählt, engagierten sich für das Gemeinwohl und waren nicht zuletzt durch zahlreiche Familienbetriebe im Ortskern präsent. Explizit jüdische Vereine waren der Israelitische Frauenverein und eine Chewra Kadischa (Sozial- und Beerdigungsverein). Am 11. August 1913 besichtigte der Hammelburger Bezirksarzt das barocke Ritualbad in Westheim und stieß auf schockierende hygienische wie bauliche Mängel. Von Amts wegen verfügte der Arzt die sofortige Schließung dieser "Mißgeburt von einem Bade" und befahl den Bau einer modernen Mikwe. Das neue rechteckige Mikwengebäude entstand bis zum 24. Dezember 1913 im Garten der Elementarschule, am nordöstlichen Ende des Grundstücks. Das beheizbare Ritualbad war gefliest, hatte einen Abfluss und eine Pumpe, um das Regenwasser bei Bedarf mit Grundwasser zu mischen. Auch diese Mikwe ist in seiner baulichen Struktur bis heute erhalten. Zehn jüdische Männer aus Westheim zogen in den Ersten Weltkrieg, drei von ihnen kehrten nicht zurück. Die Namen von Wilhelm Hanauer, Wilhelm Adler und Arnold Hirschenberger stehen auf dem Westheimer Kriegerdenkmal. Eine weitere Gedenktafel war einst an der Ostwand der Synagoge angebracht. 1929 musste die Schule wegen der hohen Kosten schließen, der Lehrer aus Hammelburg übernahm die Betreuung.
Am 4. Juli 1933 wurde der erst 18jährige Versicherungskaufmann Erich Straus aus Westheim in Nürnberg auf der Straße verhaftet und so schwer mi9sshandelt, dass er an seinen Verwundungen starb. Er ist das erste Opfer nationalsozialistischer Gewalt, den die Gemeinde zu beklagen hatte. Auch im Ort selbst verschärfte sich nach üblichem Muster die staatlich gelenkte Schikane und schrittweise Entrechtung der jüdischen Bevölkerung. Boykottaktionen setzten ihren Geschäften schwer zu. Wohl 1935 begann ein letztes Unterrichtsjahr in israelitischer Religionskunde. Nur noch zwei Kinder besuchten die christliche Elementarschule, und das nicht mehr genutzt jüdische Schulhaus ging im Dezember 1937 mitsamt dem Garten und der Mikwe in Privatbesitz über. Anstelle der Schule entstand ein modernes Wohnhaus. Bis 1936 fanden noch regelmäßige Gottesdienste zusammen. Die meisten jüdischen Familien erkannten di Ausweglosigkeit ihrer Lage und emigrierten nach Möglichkeit. Mehrere Westheimer Jüdinnen und Juden wählten, teils im Ausland, den Freitod. Zuletzt waren es nur noch fünfzehn Personen, die das Novemberpogrom 1938 erlebten. Am Vormittag des 10. November stürmten SA-Leute des Trupps Hammelburg die verbliebenen jüdischen Häuser, zertrümmerten die Einrichtung und warfen die Reste aus den Fenstern. Auch die Synagoge wurde geschändet und die Ausstattung demoliert. Die Männer kamen per Lastwagen ins Amtsgerichtsgefängnis Hammelburg zeitweise in Haft. Danach verließen bis auf drei alle Juden Westheim. 1942 wurden Nathan Hermann, seine Frau Rosa und Tochter Else nach Würzburg gebracht und von dort aus in das polnische Durchgangslager Kraśniczyn verschleppt. Im Raum Lublin wurden sie ermordet.
Nach Kriegsende kehrte keiner der nur wenigen Überlebenden nach Westheim zurück, das jüdische Leben im Ort war endgültig erloschen. Anfang der 1980er Jahre fand sich beim Abriss des ehemaligen Wohn- und Geschäftshauses der Familie Hirschenberger (ehem. Paulstraße 9) ein Konvolut an Dokumenten, Schriften, Notenblättern und Postkarten. Die von Cornelia und Michael Mence erarbeitete Ausstellung "Letzte Spuren" zeigte die Objekte aus dem jüdischen Alltagsleben erstmals 1988 der Öffentlichkeit. Teile der Sammlung 2008 wurden in einer weiteren Sonderausstellung im Stadtmuseum Herrenmühle gezeigt. Anlässlich dieser Ausstellung kamen auch Nachfahren der Familie von Israel nach Franken. 2010 öffnete in der Hammelburger Stadtbücherei eine weitere Ausstellung rund um das Poesiealbum der 1938 nach Palästina ausgewanderten Elli Adler. Am 24. November 2013 wurde am Standort des ehemaligen Anwesens der Familie Hirschberger der neu angelegte Benjamin-Hirschenberger-Platz mit einem Gedenkstein eingeweiht. Eine ältere rote Sandsteintafel erinnert an der ehemaligen Synagoge an die Kultusgemeinde Westheim, ohne aber auf die ursprüngliche Funktion des Gebäudes einzugehen - daher verorten sie manche Medien auch irrtümlicherweise "in der Nähe der ehemaligen Synagoge". Seit 2009 steht die barocke Mikwe unter Denkmalschutz, 2020 beschloss die politische Gemeinde eine fachgerechte Restaurierung. Westheim hat sich auch mit einem Gepäckstück am Würzburger Projekt Denkort Deportationen beteiligt.
(Patrick Charell)
Bilder
Bevölkerung 1910
Literatur
- Cornelia Berger-Dittscheid: Westheim/Hammelburg. In: Wolfgang Kraus, Hans-Christoph Dittscheid, Gury Schneider-Ludorff (Hg.): Mehr als Steine… Synagogen-Gedenkband Bayern, Bd. III/2: Unterfranken Teilband 2.1. Erarbeitet von Cornelia Berger-Dittscheid, Gerhard Gronauer, Hans-Christof Haas, Hans Schlumberger und Axel Töllner unter Mitarbeit von Hans-Jürgen Beck, Hans-Christoph Dittscheid, Johannes Sander und Elmar Schwinger, mit Beiträgen von Andreas Angerstorfer und Rotraud Ries. Lindenberg im Allgäu 2021, S. 361-386.
- K. statistisches Landesamt: Gemeindeverzeichnis für das Königreich Bayern. Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 und dem Gebietsstand von 1911. München 1911 (= Hefte zur Statistik des Königreichs Bayern 84), S. 218.