Jüdisches Leben
in Bayern

Thalmässing Gemeinde

Im frühen 15. Jahrhundert lebten jüdische Familien im Dorf Eysölden, fünf Kilometer nördlich von Thalmässing. Aber erst 1480 ist auch dort ein Schutzjude des Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach (reg. 1440-1486) nachgewiesen. Eine Gemeinde im eigentlichen Sinne konnte sich jedoch noch nicht entwickeln, vereinzelte und sporadische Niederlassungen wechselten sich mit Ausweisungsanordnungen der Hohenzoller Landesherren ab. Von 1542 bis 1600 gab es im Ort überhaupt keine jüdischen Bewohner. Ein erneutes Edikt zur Vertreibung der Juden war 1609 wohl nicht erfolgreich, denn ein Jahr später lebten jüdische Familien in Thalmässing und konnten für die nächsten 330 Jahre ein relativ ruhiges und gesichertes Dasein führen. 

Während die Juden in Eysölden und Aue bereits wieder fortgezogen waren, verzeichnete die Marktgemeinde bis 1689 einen kontinuierlichen Anstieg auf 14 Familien. Nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) förderten die Markgrafen den Wiederaufbau ihres Territoriums durch die gezielte Ansiedelung von christlichen Glaubensflüchtlingen und Schutzjuden. Es ist zu vermuten, dass bei der Neuanlage von Thalmässing nicht nur Exulanten aus Oberösterreich, sondern von Anfang an auch jüdische Familien mitwirkten. Sie ließen sich unmittelbar im heutigen Ortskern nieder, insbesondere an der Südseite der ökonomisch günstigen Marktstraße (heute Hauptstraße/Marktplatz/Münchner Straße). Zwischen 1690 und 1696 errichteten sie ihre erste Synagoge. Auf dem jüdischen Verbandsfriedhof von Georgensgmünd, der ab etwa 1581 bestand, wurden seit 1669/70 bis 1832 auch Verstorbene aus Thalmässing bestattet.

Nachdem Thalmässing im Jahr 1700 das Marktrecht erhalten hatte, entwickelte sich der Ort zum Handelsplatz mit guten Anbindungen in die Region: Weil das Oberamt Stauf-Landeck im 18. Jahrhundert als Enklave zwischen Gebieten des Hochstifts Eichstätt und dem Herzogtum Pfalz-Neuburg lag, die beide keine Juden duldeten, entwickelte die Marktgemeinde eine besondere Anziehungskraft auf jüdische Geschäftsleute. Ein herrschaftliches Dekret gewährte 1737 den ansässigen Juden zudem das Recht, Immobilien und Ackerland zu erwerben. Durch diese günstige Ausgangslage wuchs die Gemeinde bis 1750 auf 46 Personen an. Vor allem die evangelischen Ortspfarrer sahen diese Entwicklung mit Missfallen, weil die jüdischen Familien ihre seelsorgerischen Dienste nicht benötigten und keine Stolgebühren zahlten.

Im 18. Jahrhundert traten Juden vermehrt zum Christentum über, teils aus ökonomischen Motiven. Mehrere Konvertiten wurden mit einem großen Zeremoniell in Eysölden getauft, beispielsweise 1713 die Tochter des Juden Joseph aus Thalmässing, die den Namen Christiane Gotthold annahm. Taufpatin war die Markgräfin Christiana Charlotte von Brandenburg-Ansbach (1694-1729). Im Gegensatz zum Reichtum sehr weniger christlicher und jüdischer Häuser litt die große Mehrheit in Thalmässing unter einer bitteren Armut. Einige Juden zahlten nur die Hälfte des Schutzgeldes, andere konnten überhaupt nichts beitragen und waren auf die Hilfe ihrer Gemeinde angewiesen. Zu den karitativen Einrichtungen gehörte auch eine jüdische Armenherberge am Marktplatz, die durchreisenden „Betteljuden“ Obdach und Verpflegung bot. 

Im Jahr 1806 fiel der Markt an das Königreich Bayern, aber im Gegensatz zu anderen jüdischen Gemeinden führten die Matrikelbestimmungen des Judenedikts von 1813 nicht zu einer Abwanderung.

Bereits 1819 forderte die Regierung den Einbau einer „warmen der Gesundheit nicht schädlichen Tunke“, doch erst 1827 baute die jüdische Gemeinde ein kleines Gebäude am Mühlbach in der heutigen Merleinsgasse, das nur als Laubhütte gedient hatte und fast immer leer stand, zur modernen Warmwasser-Mikwe umbauen. Die Laubhütte wurde in das Obergeschoss eines neuen Anbaus verlegt. Lediglich vier von 192 Mikwen wurden im Jahr 1829 von der Regierung des Rezatkreises als zweckmäßig empfunden, zu diesen zählte auch die neue Mikwe in Thalmässing.

Eine Israelitische Volksschule gab es schon seit 1820. Der Elementarunterricht fand lange im jüdischen Gemeinde- und Armenhaus gegenüber der Synagoge statt, dann zog sie 1840 in einen Neubau mit Lehrerwohnung nördlich des Marktplatzes (heute Schulgasse 10). Auch einen eigenen Friedhof bekam die Gemeinde, weil der Staat die Beschwerlichkeit des 23 Kilometer langen Wegs nach Georgensgmünd anerkannte. 1832 wurde die Begräbnisstätte mit einem Brunnen und Taharahaus auf dem Gartengrundstück von Feist Moses Heydecker errichtet (An der Leiten, Flur Nr. 179) und mit der Beerdigung des Handelsmanns Abraham Wallersteiner am 10. Februar 1833 in Betrieb genommen.

Weil die barocke Synagoge der Kultusgemeinde nicht mehr genügend Raum bot, wurde sie bis zum 7. August 1857 umgebaut und in einem ansatzweise orientalischen Stil erweitert. Jüdische Bürger bekleideten in der zweiten Jahrhunderthälfte wichtige Funktionen im Gemeinderat und in mehreren Vereinen. Im Gegensatz zum 17. und 18. Jahrhundert, als unter der Oberleitung der Ansbacher Landesrabbiner immer wieder Ortsrabbiner in Thalmässing nachweisbar waren, übernahmen ab 1840 zunächst die Distriktsrabbiner aus Schwabach, dann von Sulzbürg und ab 1900 Nürnberg die seelsorgerische Betreuung. Die Funktionen des Chasan und Schochet hatte die Gemeinde noch im Jahr 1838 mit dem Amt des jeweiligen staatlich geprüften Religions- und Elementarlehrers verbunden. Ab 1871 wurden wieder gesonderte Stellen für den Lehrer sowie einen Schächter, Vorsänger, Gemeinde- und Begräbnisdiener in Personalunion ausgeschrieben. Im Jahr 1862 sind 57 jüdische Haushalte nachgewiesen, erst danach nahm ihre Zahl immer weiter ab - mit der neu gewonnnen freien Wohnorts- und Berufswahl wanderten viele Jüdinnen und Juden in die Industriezentren ab.

Auch Joseph Schülein (1854-1938) zog von Thalmässing nach München und gründete dort mit seinen Brüdern im Jahr 1885 das Unions-Bräu. 1905 übernahm Schülein das Münchner-Kindl-Bräu und fusionierte 1921 mit dem Löwenbräu. Schülein wurde als Aufsichtsratsmitglied 1933 von den Nationalsozialisten suspendiert. Er zog sich auf sein Schloss Kaltenberg bei Geltendorf zurück, wo er am 9. September 1938 verstarb. Sein jüngerer Sohn Hermann Schülein (1884-1970) emigrierte in die USA und wurde von der deutsch-jüdischen Liebmann Brewery in New York als Geschäftsführer angestellt. Er führte das kriselnde Unternehmen mit der Hauptmarke Rheingold Extra Dry Lager zur Marktspitze.

In Thalmässing musste die jüdische Volksschule 1924 aus Finanzgründen schließen. Bis 1934 wurde im Gebäude weiterhin Religionsunterricht erteilt, während die jüdischen Kinder ansonsten in die örtliche Schule gingen. Die Kultusgemeinde bestand 1925 nur noch aus 42 Personen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde im Sommer das Schulhaus demoliert, der Lehrer Elieser Rachelsohn misshandelt und in „Schutzhaft“ genommen. Seine Frau verlor daraufhin den Verstand und kam in eine Anstalt. Auch das Haus der Familie Schülein wurde Opfer von Gewalt, die Familie wanderte aus. Weil 1937 kein Minjan mehr zustande kam, musste sich die jüdische Kultusgemeinde auflösen. Joseph Schülein übernahm von München bzw. Schloss Kaltenberg bei Geltendorf aus kommissarisch die Geschäftsführung und verkaufte die leer stehende Synagoge. Nur noch neun Jüdinnen und Juden erlebten das Novemberpogrom 1938 mit voller Wucht – über drei Tage zogen sich Ausschreitungen hin. Seit dem 18. Mai 1939 galt Thalmässing als "judenfrei". 13 Personen konnten noch in die USA, nach Argentinien und Frankreich fliehen, 37 weitere in Thalmässing geborene oder dort lange wohnhafte Jüdinnen und Juden verloren in der Shoah ihr Leben. 

Nach dem Krieg wurde der geschändete Friedhof wiederhergerichtet, allerdings blieb knapp die Hälfte der Steine verschollen. Viele stehen nicht mehr an ihrem ursprünglichen Platz. Die Begräbnisstätte gehört heute dem Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern und wird von der Marktgemeinde gepflegt. Die Mikwe ist bereits seit 1938 ein Wohnhaus. Das Schulhaus war vor 1939 an die Marktgemeinde gekommen, auch sie wird heute als Wohnhaus benutzt. Das Synagogengrundstück ist heute überbaut. 1998 kuratierten Heimatforscherin Irmgard Prommersberger und Historiker Ralf Rossmeissl die Ausstellung Jüdische Heimat Thalmässing und leisteten dabei für den Ort wertvolle Grundlagenforschung. Im Jahr 2000 errichtete die Marktgemeinde Thalmässing anlässlich ihrer 1100-Jahrfeier einen Gedenkstein in der Nähe des Standortes, der die wichtigsten Daten der jüdischen Geschichte des Ortes vermerkt. Am 80. Jahrestag des Novemberpogroms wurde auf dem jüdischen Friedhof ein neuer Gedenkstein für die 33 deportierten Opfer des NS-Regimes eingeweiht. Zum Jubiläumsjahr "1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland" 2021 wurden im Rahmen des Kooperationsprojektes Tachles - Spuren jüdischen Lebens im südlichen Mittelfranken auch in Thalmässing vier Informationstafeln aufgestellt.


(Patrick Charell)


Bilder

Bevölkerung 1910

Literatur

  • Freilandmuseum Franken Bad Windsheim / Herbert May (Hg.): Lang gegrindet - Jüdisches Leben in Franken. Bad Windsheim 2022, S. 14.
  • Gemeinde Georgensgmünd / Stadt Pappenheim / Markt Thalmässing (Hg.): TACHLES - Spuren jüdischen Lebens im südlichen Mittelfranken, S.L. 2021. Online unter: https://www.thalmaessing.de/fileadmin/Dateien/ERLRO_Tachles_A5_Web.pdf [Zugriff: 27.05.2022].
  • Lilian Harlander: „Von den Münchner Bieren kommt hauptsächlich Löwenbräu in Frage“. Die Familie Schülein im Münchner Braugewerbe. In: Lilian Harlander / Bernhard Purin / Jüdisches Museum München (Hg.): AK Bier ist der Wein dieses Landes. Jüdische Braugeschichten. München 2016, S. 139-190.
  • Bernhard Purin: „My Beer is Rheingold – the dry Beer. Die Liebmanns, Hermann Schülein und Miss Rheingold. In: Lilian Harlander / Bernhard Purin / Jüdisches Museum München (Hg.): AK Bier ist der Wein dieses Landes. Jüdische Braugeschichten. München 2016, S. 207-236.
  • Cornelia Berger-Dittscheid: Thalmässing. In: Wolfgang Kraus, Berndt Hamm, Meier Schwarz (Hg.): Mehr als Steine... Synagogen-Gedenkband Bayern, Bd. 2: Mittelfranken. Erarbeitet von Barbara Eberhardt, Cornelia Berger-Dittscheid, Hans-Christof Haas und Angela Hager unter Mitarbeit von Frank Purrmann und Axel Töllner mit einem Beitrag von Katrin Keßler. Lindenberg im Allgäu 2010, S. 639-651.
  • Aubrey Pomerance: Die Memorbücher der jüdischen Gemeinden in Franken. In: Michael Brenner / Daniela F. Eisenstein (Hg.): Die Juden in Franken. München 2012, S. 95-113.
  • Magnus Weinberg: Die Memorbücher der jüdischen Gemeinden in Bayern, Bd. 1. Frankfurt/Main 1937, S. 231-233.
  • K. statistisches Landesamt: Gemeindeverzeichnis für das Königreich Bayern. Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 und dem Gebietsstand von 1911. München 1911 (= Hefte zur Statistik des Königreichs Bayern 84), S. 189.