Die Adelsfamilie der Mauchenheim genannt Bechtolsheim besaß im Zentrum des Weinbauerndorfes Tauberrettersheim einen Freihof. In ihm wohnten spätestens seit der Wende zum 18. Jahrhundert jüdische Familien, denn eine Gemeinderechnung aus dem Jahr 1700 verzeichnet erstmals eine Einnahme für "Handels- und Wanderschaft" der Juden. Eine Dorfrechnung von 1712 listet Gebühren auf, die wegen neu ankommenden Juden angefallen sind. In der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts bildete sich im Dorf eine israelitische Kultusgemeinde. 1743 ist als deren Vorsteher Aharon Kohen Zedek erwähnt. Er starb 1750 und wurde wie seine Frau auf dem jüdischen Friedhof in Weikersheim begraben.
Erhaltene Aktennotizen geben Auskunft über Handelsgeschäfte zwischen ortsansässigen Juden und der Dorfverwaltung in der Folgezeit. So lieferte der Jude Lämlein im Jahr 1757 Fleisch für das kaiserlich-königliche Lazarett, das während des siebenjährigen Kriegs im Rathaus von Tauberrettersheim stationiert war. 1774 kaufte die Gemeinde von dem "Lippmannjuden dahier" schwarzes Tuch und Zubehör für die Gamaschen der Landsoldaten. Der jüdische Vorsteher Jessel lieferte in den 1770er und 1780er Jahren immer wieder Stoffe für die Uniformen der Landsoldaten. Im Jahr 1800 fiel der Freihof, der damals bereits "Judenhof" genannt wurde, an das Würzburger Neumünsterstift. Das Anwesen bestand aus fünf Häusern, in denen 13 jüdische Familien mit rund 60 Personen zur Miete wohnten.
Als Teil des Hochstiftes Würzburg wurde Tauberrettersheim 1803 säkularisiert und zwei Jahre später im Frieden von Preßburg Erzherzog Ferdinand von Toskana zur Bildung des Großherzogtums Würzburg überlassen. Das Großherzogtum Würzburg fiel 1814 an das Königreich Bayern. Nach Maßgabe des bayerischen Judenedikts erhielt die jüdische Gemeinde 1817 zwölf Matrikelplätze (d.h. für maximal 12 jüdische Familien) und wurde dem Rabbinatsdistrikt Würzburg zugeordnet. Um 1840 kam das Dorf in den Rabbinatsdistrikt Marktsteft, dessen Sitz Mitte des 19. Jh. nach Mainbernheim und 1871 nach Kitzingen verlegt wurde. Bis 1833/35 stieg die Zahl der jüdischen Bevölkerung auf 13 Familien mit rund 70 Personen und hatte damit ihren Höchststand erreicht. Die Israeliten bestritten ihren Lebensunterhalt in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jh. hauptsächlich noch mit mobilem Klein- und Warenhandel (v.a. Stoffe). In den folgenden Jahren gelangten die meisten in den Besitz von Weinbergen und landwirtschaftlichen Nutzflächen. Das königliche Rentamt verkaufte 1824 die Wohnungen im „Judenhof“ an die jüdischen Mieter. Die Kultusgemeinde erwarb bei dieser Gelegenheit zur allgemeinen Nutzung den Keller unter dem ehemaligen Amtshaus (Hausnr. 110a, heute: Rathaus, Judenhof 1), das Wasch- und Backhaus (Hausnr. 110q, heute: Judenhof 2), in dem die Mikwe eingerichtet wurde, sowie Anteile an Hausnr. 110i und Hausnr. 110l (ab 1833 Sitz der jüdischen Religionsschule; heute: Judenhof 7). Der Metzger Wolf Weikersheimer kaufte Hausnr. 110h zur Nutzung als Schlachthaus.
Die jüdischen Kinder besuchten den Elementarunterricht in der christlichen Volksschule im Dorf. Ihren konfessionellen Unterricht erhielten sie durch einen jüdischen Religionslehrer, der von der Kultusgemeinde bezahlt wurde, und den Vorsängerdienst, später auch noch das Amt des Schochets übernahm. 1842 gab es 14 schulpflichtige Kinder, acht Werktags-und sechs Sonntagsschüler. Mit dem Bau und der 1851 erfolgten Einweihung der neuen Synagoge und des jüdischen Gemeindezentrums im Judenhof entstand an der Nordostecke des Areals auch ein neues, oberirdisches Ritualbad auf dem Grundstück des ehemaligen Wasch- und Backhauses (heute: Judenhof 2). Der kleine Bau mit der Warmwasser-Mikwe besaß einen Vorraum und ein Zimmer mit dem Tauchbecken, das mit Quellwasser gespeist wurde. Ab den 1740er Jahren bestattete die Kultusgemeinde ihre Toten hauptsächlich auf dem jüdischen Friedhof in Weikersheim (Württemberg), der 1730 angelegt wurde und sieben Kilometer entfernt lag. Eher selten benutzte man den 17 Kilometer entfernten Verbandsfriedhof in Allersheim als letzte Ruhestätte.
In der zweiten Jahrhunderthälfte verbesserten sich die Vermögensverhältnisse der Juden im Ort. 1858 erhielten vier von ihnen die Konzession als Viehhändler. Einige jüdische Familien betrieben nun Ladengeschäfte oder waren in der Landwirtschaft tätig. Mehrere Familien zogen aus dem Freihof aus und siedelten sich im Dorf an; im Gegenzug wählten christliche Familien Häuser im Freihof als Wohnsitz. Durch die Abschaffung des Matrikelparagraphen im Jahr 1861 war es den Juden ab sofort erlaubt, sich überall anzusiedeln. Daher gab es in der Folgezeit eine große Landflucht.
Auch in Tauberrettersheim setzte eine Abwanderung in die Großstädte, v.a. nach Würzburg und Frankfurt, ein, da man sich dadurch eine wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg erhoffte. Zählten 1867 noch 63 Personen zur Gemeinde, so gehörten ihr 1880 nur noch 42 Mitglieder an. 1891 musste man eine Erbschaft ablehnen, da die Verstorbene dafür Gebete an ihrem Sterbetag zur Auflage machte, die jüdische Gemeinde aber zu wenige religionsmündige Männer hatte und nur mehr am Sabbat und an Feiertagen den Minjan erfüllen konnte. 1925 bestand die im Aussterben begriffenen jüdische Dorfgemeinde noch aus 21 Personen. Ein Jahr später wurde die jüdische Religionsschule aufgelöst, da es keine Schüler mehr gab.
Dem bis dahin weitgehend friedlichen Zusammenleben zwischen jüdischen und nichtjüdischen Dorfbewohnern bereitete das NS-Regime ein jähes Ende. Bei der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 lebten noch neun Israeliten im Ort. Am Ortseingang wurde bald eine "Stürmerwand" mit dem Spruch "Die Juden sind unser Unglück" (ein weit verbreiteter Spruch Heinrich von Treitschkes) aufgestellt und in der Synagoge die Fensterscheiben zertrümmert. 1935 kam es zu Anschlägen auf jüdische Häuser, u.a. wurde das Wohnhaus der Geschwister Josef und Betty Gunzenhäuser mehrmals mit Kot beschmiert. Ein Jahr später wurden die jüdische Gemeinde offiziell aufgelöst und der Großteil der Ritualien und Archivalien aus der Synagoge dem Verband der Bayerischen israelitischen Gemeinden in München zur Verwahrung übergeben. Während des Novemberpogroms 1938 drangen in der Nacht vom 10. auf 11. November SS- und SA-Leute, die mit Stangen und Stöcken bewaffnet waren, in die jüdischen Häuser und Wohnungen im Ort ein, drangsalierten die dort angetroffenen Bewohner, und vernichteten die Inneneinrichtungen, den Hausrat und die Vorräte.
Obwohl die Synagoge bereits seit 1936 nicht mehr genutzt wurde, demolierten die Nationalsozialisten die Fenster und Türen, zertrümmerten den Toraschrein, warfen die noch verbliebene Torarolle in den Straßendreck und trampelten darauf herum. Wenig später ging das Gebäude der Synagoge zu einem Spottpreis auf die Kommune über. Man plante es zu einem Jugendheim umzubauen. Auch zwei jüdischen Stiftungen wurden konfisziert. Die Mikwe hat man an einen Schreiner verkauft. Bis 1939 gelang es noch einigen jüdischen Einwohnern zu emigrieren oder in andere Städte zu flüchten. Anfang 1942 lebten noch zwei ältere jüdische Frauen am Ort. Sie mussten im März 1942 in das Würzburger Altersheim umziehen. Von dort aus wurden sie im April 1942 nach Izbica bei Lublin (Polen), beziehungsweise im September 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und ermordet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu keinem Strafverfahren über die antisemitischen Ausschreitungen, die während des Novemberpogroms 1938 in Tauberrettersheim stattfanden, da keine Details darüber ermittelt werden konnten.
An die einstige jüdische Gemeinde erinnern heute noch die 1956 zum Wohnhaus umgebaute ehemalige Synagoge und zwei einstige jüdische Wohnhäuser im Judenhof, sowie die früheren Anwesen der Familie Grünfeld in der Kirchstraße und das "Haus Kusel" in der Mühlstraße, die sich erhalten haben. Dabei sind die Straßennamen "Judenhof" und "Judengässchen" die einzigen Hinweise auf die im Dritten Reich vertriebenen und ermordeten jüdischen Mitbürger, die hier lebten.
(Christine Riedl-Valder)
Bilder
Bevölkerung 1910
Literatur
- Cornelia Berger-Dittscheid: Tauberrettersheim. In: Wolfgang Kraus, Gury Schneider-Ludorff, Hans-Christoph Dittscheid, Meier Schwarz (Hg.): Mehr als Steine... Synagogen-Gedenkband Bayern, Band III/1: Unterfranken, Teilband 1. Erarbeitet von Axel Töllner, Cornelia Berger-Dittscheid, Hans-Christof Haas und Hans Schlumberger unter Mitarbeit von Gerhard Gronauer, Jonas Leipziger und Liesa Weber, mit einem Beitrag von Roland Flade, Lindenberg im Allgäu 2015, S. 806-818.
- Aubrey Pomerance: Die Memorbücher der jüdischen Gemeinden in Franken, in: Michael Brenner / Daniela F. Eisenstein (Hg.): Die Juden in Franken. München 2012, S. 95-113.
- Magnus Weinberg: Die Memorbücher der jüdischen Gemeinden in Bayern, Bd. 1. Frankfurt am Main 1937, S. 78-81.
- K. statistisches Landesamt: Gemeindeverzeichnis für das Königreich Bayern. Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 und dem Gebietsstand von 1911. München 1911 (= Hefte zur Statistik des Königreichs Bayern 84), S. 240.