Seit 1275 besitzt Röttingen Stadtrechte. Wegen seiner verkehrstechnisch günstigen Lage siedelten sich in der Folgezeit Juden an und bildeten eine Kultusgemeinde. Die Existenz einer Synagoge ist aus dieser Zeit nachgewiesen, allerdings ist ihr Standort unbekannt. Die Gasse neben dem Rathaus hieß einst "Judengasse". Der "Judenweg", "Judenkirchhof", "Judenbrunnen" waren noch in den 1950er Jahren bekannte Ortsnamen für einen Weg, Güter und eine Wiese außerhalb des Städtchens am linken Tauberufer.
Im Jahr 1298, so die Fama, geschah in Röttingen folgendes: Der Mesner der Stadtpfarrkirche St. Kilian soll "den Juden" (Iudai) für zehn Silbertaler eine der konsekrierten Hostien aus dem Tabernakel verkauft haben. Diese kamen in der Osternacht zusammen, stachen mit Klingen auf die Hostie ein, die daraufhin zu bluten begann – voller Entsetzen warfen die Frevler die entweihte Hostie in die Tauber, die sich daraufhin blutrot färbte. Die Prämonstratenserinnen des flussabwärts gelegenen Klosters Schäftersheim fischten die Hostie an einer mit Weiden bewachsenen Stelle aus dem Fluss, die im Volksmund seither "Heilige Weiden" genannt wird. Daraufhin sollen zwei feurige Lichter über der Synagoge und dem Mesnerhaus erschienen sein. Der Kirchenpfleger und die Juden wurden lebendig verbrannt. Soweit die Sage, die typische antisemitische Klischees aufgreift: Angebliche Hostienschändungen waren bis ins 18. Jahrhundert oft wiederholte und ausgeschmückte Erzählungen, um Stimmung gegen die Juden zu machen. Sie beschränkten sich seit der Reformation auf katholische Gegenden, denn die Verleumdung beruht auf einer sehr naiven Interpretation der Realpräsenz Jesu Christi in der Eucharistie. Für die Kultusgemeinde in Röttingen, aber auch für alle Juden in Franken, der Oberpfalz und Altbayern hatte dieses Gerücht furchtbare Folgen: Am 20. April 1298 wurden in einem ersten Massaker die 21 Juden der Stadt Röttingen auf dem Scheiterhaufen verbrannt, ihr Besitz und die Häuser fanden neue Eigentümer. Anschließend zog eine Gruppe von "Judenschlägern" unter der Anführung eines "gewissen Adeligen, der König Rintfleisch genannt wurde" durch das territorial zersplitterte Land. Die meisten Grundherren waren zu dieser Zeit mitsamt ihrem bewaffneten Aufgebot abwesend, weil sie im Thronstreit zwischen Albrecht I. von Österreich und Adolf von Nassau im Felde standen. Außerhalb der stark befestigten Reichsstädte konnten oder wollten nur die wenigsten ihren Schutzjuden Hilfe bieten. Die Namen von 3441 ermordeten Juden aus 44 "Blutstädten" werden im Nürnberger Memorbuch aufgelistet. König Albrecht I. (reg. 1298-1308) ließ Rintfleisch und weitere Anführer der Massaker schließlich vermutlich verbannen, nach einer anderen (späteren und eventuell tendenziösen) Quelle hingegen festnehmen, enteignen und aufhängen. Die Städte, in denen Juden getötet worden waren, seien demnach zu Geldstrafen an den König verurteilt worden.
In Röttingen scheint es trotz der Gräueltaten schon bald nach dem Rintfleischpogrom wieder einige jüdische Haushalte gegeben zu haben. Doch Röttingen an der Tauber wurde noch einmal zum Ausgangspunkt einer grausamen Judenverfolgung: Weil sie angeblich das Allerheiligste während der Fronkleichnamsprozession verspotteten, kam es am 29. Juli 1336 zu einem erneuten Massaker an der jüdischen Bevölkerung. Wie rund vierzig Jahre zuvor zogen marodierende Haufen in der sogenannten Armleder-Verfolgung durch das Land, zunächst angeführt vom verarmten Ritter Arnold III. von Uissigheim ("Rex Armleder"). Bei Ochsenfurt gelang es, unter Mithilfe der Würzburger Stadtbevölkerung ihren Vernichtungszug aufzuhalten. Ritter Arnold wurde festgenommen und am 14. November 1336 in Kitzingen mit dem eigenen Schwert hingerichtet. Ein Jahr später flammte der Aufstand erneut auf und wurde erst in Lothringen vor den Toren Colmars durch ein kaiserliches Aufgebot zerschlagen. Die vorher eher passiven Fürsten des Reiches hatten erkannt, dass der anarchische Mob aus verelendeten Bauern und überschuldetem Kleinadel auch für ihre Macht eine Bedrohung darstellte. In der Stadt Röttingen bildete sich nach diesen zwei Katastrophen kein neues jüdisches Leben mehr. Ab 1345 gehörte die Stadt nicht mehr dem Adelsgeschlecht Hohenlohe, sondern unterstand dem Hochstift Würzburg. Auf fürstbischöflichen Befehl hin mussten durchreisende Juden bis ins 18. Jahrhundert hinein die Stadt beim Geläut der Abendglocke verlassen.
Auch im 19. und 20. Jahrhunderten blieben Juden der Stadt fern. Einerseits fehlten wirtschaftliche Anreize, schwerwiegender war aber wohl das abschreckende Kollektivgedenken an die großen Pogrome, die in Röttingen ihren Ursprung nahmen. Für lange Zeit hing im Langhaus der Pfarrkirche St. Kilian ein Ölgemälde aus dem Jahr 1815. Um ein zentrales Bildnis Christi beim Segnen des Brotleibs gruppierten sich sechs blumengeschmückte Kartuschen, in denen die Geschichte der Hostienschändung in teils drastischen Szenen nacherzählt wurde. Zwei Spruchbänder erläuterten dazu: "Geschichte der siegenden Wahrheit / der gestraften Bosheit. Dieses geschah hier in Röttingen im Jahr 1288 [sic]". Das Bild wurde auf Initiative der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Unterfranken e.V. im Oktober 1988 entfernt und befindet sich heute als Leihgabe der Kirchenstiftung St. Kilian in Röttingen in der Kunstsammlung der Diözese Würzburg.
Persönlicher Dank geht an Diözesankonservator Dr. Wolfgang Schneider M.A. (Würzburg) für seine persönliche Unterstützung
(Patrick Charell)
Bilder
Literatur
- Kurt Freudinger: Aus der Vergangenheit der Stadt Röttingen an der Tauber. Unter Verwendung der Ortschronik von Benefiziat Michael Wieland 1904, Ochsenfurt 1954, S. 14-22.
- Hans Apfelbacher / Dr. Carlheinz Gräter: Plauderei über Röttingen, in: Stadt Röttingen (Hg.), 700 Jahre Stadt Röttingen 1275-1975. [Tauberbischofsheim] 1975, S. 23-40.
- Klaus-Dieter Alicke: Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, Bd. 3. München 2008, Sp. 4051f.
- Christoph Daxelmüller: OT Würzburger Bischofschronik. In: Haus der Bayerischen Geschichte / Wolfgang Jahn (Hg.): Edel und Frei. Franken im Mittelalter. Katalog der Bayerischen Landesausstellung 2004. Augsburg 2004 (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 44), S. 160-162.
- Israel Schwierz: Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation, 2. Aufl. München 1992 (=Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit A85), S. 117f.