Reichenberg gehörte zum Rittergut Albertshausen der Freiherren von Wolfskeel. Wolf Bartholomäus Wolfskeel (1535-1605) führte in seiner Herrschaft ab 1567 die Reformation ein und unterstützte die Ansiedlung von vertriebenen Protestanten und Juden. 1587 verzeichnete das Reichenberger Gültbuch erstmals einen jüdischen Einwohner: Abraham Jud besaß damals einen Hof in Hattenhausen und musste dafür Abgaben leisten. 1612 wohnten drei, 1659 fünf jüdische Familien in Reichenberg. Ein "Jonas Jud von Reichenberg" wurde 1684 als Viehhändler in Heidingsfeld aktenkundig. Nach den verheerenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges, der die Dörfer und Städte entvölkerte, vernichtete 1692 ein Großbrand den Ort. Danach erfolgte der Wiederaufbau des Dorfes am Fuße des Schlossberges.
Bereits 1693 waren zehn jüdische Familien unter dem Schutz der Ritter von Wolfskeel ansässig. Drei der Familien bewohnten eigene Häuser; sieben lebten zur Miete. Bis 1740 verdoppelte sich die Zahl der jüdischen Haushalte. Sieben von ihnen verfügten über eigenen Hausbesitz. Anstatt der seinerzeit üblichen Abgaben von vier bis sechs Gulden, hatten die Juden in Reichenberg zehn Gulden Schutzgeld zu bezahlen. Bis 1772 stieg die jüdische Bevölkerung auf 28 Familien an. 1772 werden erstmals ein Schulmeister und ein Bote der Landjudenschaft erwähnt. Ihren Lebensunterhalt verdienten sich die Hausväter unter anderem als Kleinhändler, Krämer, Goldsticker und Metzger. Die Toten der Gemeinde wurden auf dem jüdischen Bezirksfriedhof in Allersheim bestattet.
1808/10 hatte die jüdische Gemeinde Reichenberg mit 31 Familien und knapp 150 Personen den höchsten Mitgliederstand ihrer Geschichte. 1814 kam der Ort an das Königreich Bayern, erhielt 1817/18 im Rahmen des geltenden bayerischen Judenedikts 26 Matrikelstellen und wurde dem Distriktsrabbinat Würzburg zugeteilt. Bis 1835 vergrößerte sich die Zahl wieder auf 29 Familien und rund 125 Personen. Neben dem Kleinhandel waren Juden im Viehhandel, der Landwirtschaft, als Seifensieder und Metzger (5 Betriebe um 1850!) tätig. Daneben schien Reichenberg Anfang des 19. Jh. ein Zentrum der Goldstickerei gewesen zu sein, denn drei Betriebe arbeiteten in diesem Erwerbszweig, der v.a. der Herstellung von jüdischen Ritualien, wie z.B. Toramänteln oder -vorhängen diente. Der Großteil der jüdischen Bevölkerung wohnte in der Nähe der Synagoge am Schindersberg. Das Ritualbad (Haus Nr. 55 a, heute: Schindersberg 1) lag im Hinterhof der Metzgerei von Pfeiffer Krebs unterhalb der Synagoge. 1829 empfahl der Landgerichtsarzt allerdings den Frauen, künftig lieber die Bäder der Nachbargemeinden zu nutzen, da er die Reichenberger Mikwe als unhygienisch einstufte. Im jüdischen Gemeindehaus (Plan Nr. 62 a/b, Haus Nr. 8, heute: Steige 3) befanden sich die Lehrerwohnung und ab 1847 die Religionsschule. Auch ein "Würzgarten" (Kräutergarten) gehörte zu dem Anwesen. Die jüdischen Kinder besuchten den Elementarunterricht in der christlichen Schule im Dorf. Dafür mussten die Eltern Schulgeld bezahlen. Den Religionsunterricht erhielten sie von einem Privatlehrer, den die jüdische Gemeinde entlohnte. Er übernahm auch oft die Pflichten des Vorsängers. Der 1847 tätige Religionslehrer Abraham Stolzinger erhielt ein jährliches Gehalt von 40 Gulden. Da er auch als Schochet arbeitete, bekam er zusätzlich von den Metzgern 50 Gulden.
Durch die Abschaffung des Matrikelparagraphen im Jahr 1861 war es den Juden seitdem erlaubt, sich überall anzusiedeln. Auch in Reichenberg setzte eine starke Abwanderung der jüdischen Familien in Großstädte, insbesondere nach Würzburg, ein. 1867 gehörten der jüdischen Gemeinde noch 60 Personen an. Im Krieg 1870/71 starben aus der jüdischen Gemeinde Lippmann Hess und Levi Hess. Ihre Namen stehen auf einem Kriegerdenkmal an der Bahnhofstraße. Das benachbarte Denkmal für die Gefallenen der Weltkriege enthält dagegen keine Namen von Juden, obwohl Isaak und Sally Krebs Opfer des Ersten Weltkriegs wurden. Bis 1910 sank die Anzahl der jüdischen Mitbürger auf 46 Personen. Der orthodoxe Jugendverband Esra hielt 1929 eine Versammlung in Reichenberg ab. Damals trafen sich in dem Dorf über 200 Delegierte. Zu dieser Zeit wurde Reichenberg dem Distriktsrabbinat Würzburg zugeteilt. 1932/33 belief sich die Zahl der jüdischen Kinder, die Religionslehrer Gutmann unterrichtete, noch auf sieben Schüler.
Bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 lebten 35 Jüdinnen und Juden im Dorf. In der Folgezeit mussten sie zunehmend Schikanen und Ausgrenzungen erleiden, z.B. wurden sie 1936 aus dem Diakonischen Johannisverein ausgeschlossen und man stellte Schilder mit antisemitischen Botschaften im Ort auf. Ab 1938 kam es zu Auswanderungen von Gemeindemitgliedern. Als Ziel wurde überwiegend die USA gewählt. Die Emigranten mussten ihre Immobilien zuvor zu Spottpreisen veräußern. Während des Novemberpogrom 1938 blieb zwar die Synagoge verschont, doch die jüdischen Männer des Ortes wurden verhaftet. Man hat sie in das Gefängnis nach Würzburg gebracht und von dort in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, wo einer von ihnen starb. Nach diesen Ereignissen zogen einige jüdische Dorfbewohner in deutsche Großstädte, v.a. nach Frankfurt, um; manchen gelang noch die Flucht ins Ausland. Zu schweren Ausschreitungen kam es in Reichenberg am 23./24. September 1939. Eine Horde von rund 20 Männern aus dem Dorf bewaffnete sich mit Holzprügeln und Steinen. Unter der Führung des Bürgermeisters zogen sie laut schreiend vor die Häuser der fünf, noch in Reichenberg lebenden jüdischen Familien und zertrümmerten die Fenster und Türen. Dann drangen sie in die Wohnungen ein, zerstörten die Einrichtungen und vernichteten Hausrat und Vorräte. Auch die Synagoge wurde aufgebrochen und ihre Inneneinrichtung zerstört. Anschließend hat man die jüdischen Familien enteignet. Sie mussten alle in das sog. Rote Haus der Händlerin Rosa Krebs umziehen und dort zusammen wohnen.
Im Februar 1942 lebten noch 20 jüdische Mitbürger in Reichenberg. Zwölf wurden am 24. April über Würzburg nach Izbica bei Lublin deportiert und dort ermordet. Im Mai 1942 wurden sechs weitere Personen ebenfalls nach Würzburg verbracht. Von ihnen wurden drei im September 1942 in das Ghetto Theresienstadt verschleppt, zwei im Juni 1943 nach Auschwitz. Niemand von ihnen überlebte die Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Im Mai 1942 kamen die jüdische Schule, die Synagoge und die Mikwe zwangsweise in den Besitz der "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland".
1950 begann vor dem Landgericht Würzburg die Hauptverhandlung gegen acht Angeklagte, denen die Beteiligung an den brutalen Übergriffen in Reichenberg im September 1939 zur Last gelegt wurde. Der damalige Ortsgruppenleiter wurde zu einem Jahr Haftstrafe verurteilt, vier weitere Reichenberger erhielten wegen schweren Landfriedensbruchs zwischen 7 bis 11 Monate Gefängnis.
Das ehemalige jüdische Gemeindehaus (Steige 3) wurde in der Nachkriegszeit vom Finanzamt Würzburg verwaltet und vermietet. Man hat es bis 1972 erhalten, später aber abgerissen und durch einen Neubau ersetzt.
(Christine Riedl-Valder)
Bilder
Bevölkerung 1910
Literatur
- Cornelia Berger-Dittscheid / Hans-Christof Haas: Reichenberg. In: Wolfgang Kraus, Gury Schneider-Ludorff, Hans-Christoph Dittscheid, Meier Schwarz (Hg.): Mehr als Steine... Synagogen-Gedenkband Bayern, Band III/1: Unterfranken, Teilband 1. Erarbeitet von Axel Töllner, Cornelia Berger-Dittscheid, Hans-Christof Haas und Hans Schlumberger unter Mitarbeit von Gerhard Gronauer, Jonas Leipziger und Liesa Weber, mit einem Beitrag von Roland Flade, Lindenberg im Allgäu 2015, S. 763-775.
- K. statistisches Landesamt: Gemeindeverzeichnis für das Königreich Bayern. Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 und dem Gebietsstand von 1911. München 1911 (= Hefte zur Statistik des Königreichs Bayern 84), S. 243.