Jüdisches Leben
in Bayern

Poppenlauer Gemeinde

In Poppenlauer lässt sich erstmals nach den Wirren des Dreißigjährigen Krieges jüdisches Leben nachweisen. Seit 1586 hatten hier zwei katholische Grundherren Besitzungen, zum einen das Hochstift Würzburg, zum anderen die Herren von Schaumburg zu Thundorf, die 1675/1676 von der Adelsfamilie von Rosenbach abgelöst wurden. Ab der 2. Hälfte des 17. Jh. wohnten im Dorf Schutzjuden beider Grundherren. 1699 gab es hier eine Familie mit fünf Personen unter dem Schutz des Hochstifts Würzburg sowie fünf weitere jüdische Haushalte, die ihre Abgaben je zur Hälfte an das Hochstift und an die Herren von Rosenbach leisteten. Diese gemischt-herrschaftliche Judenschaft, die damals aus rund 30 Personen bestand, war ein Sonderfall. 

Der jüdische Bevölkerungsanteil stieg im 18. Jahrhundert schnell an und belief sich 1738 bereits auf 14 Familien. Vermutlich war der größte Teil von ihnen weiterhin beiden Grundherren gegenüber abgabenpflichtig. Bereits in der ersten Jahrhunderthälfte kam es in Poppenlauer zu Anschlägen auf ansässige Schutzjuden. Diese klagten 1737 dem Fürstbischof über die Missachtung des Schutzes durch den örtlichen Schultheißen und die Bauern. Sie wurden von ihnen in vielen Lebensbereichen bevormundet, willkürlich eingesperrt, erpresst, mussten zusätzliche Gebühren zahlen und waren ständig von Gewalttätigkeiten bedroht. Eine bischöfliche Verordnung sorgte daraufhin kurzzeitig für Ruhe und Ordnung. Doch schon bald wurden die Juden im Dorf erneut vom Schultheiß und Mitgliedern der christlichen Gemeinde in boshafter Weise schikaniert, ihrer Rechte beraubt und einzelne von ihnen brutal zusammengeschlagen. Offensichtlich waren die christlichen Bürger entschlossen sie zu vertreiben, was ihnen jedoch nicht gelang. 1763 lebten noch elf Schutzjuden des Hochstift Würzburg mit ihren Familien in Poppenlauer. Die Toten der Gemeinde fanden ihre letzte Ruhestätte auf dem jüdischen Friedhof Kleinbardorf der rund drei Wegstunden entfernt lag.

1803 gehörten zur IKG Poppenlauer 22 jüdische Familien. Von ihnen standen 13 unter dem Schutz des Hochstifts Würzburg und acht besaßen Schutzbriefe der Herren von Rosenberg. Eine Person lebte hier ohne Schutzherrn. Der Großteil der Israeliten verdiente sich den Lebensunterhalt durch Handelstätigkeiten. Daneben gab es noch diejenigen Berufe, die mit der jüdischen Religionsausübung verbunden waren: einen Schochet, einen Schulmeister und einen Buchbinder. 1816 fiel der Untermainkreis, und damit auch Poppenlauer, an das Königreich Bayern. 1817 erhielten 18 jüdische Haushaltsvorstände eine Matrikelstelle und damit die Berechtigung, in Poppenlauer zu wohnen. Drei weitere jüdische Familien, die Feld- und Ackerbau betrieben, erhielten1820, 1822 und 1826 zusätzlich eine Matrikelstelle, so dass es insgesamt 21 Plätze gab. Die Kultusgemeinde gehörte zunächst dem Landesrabbinat Würzburg an, 1840 kam sie an das Distriktsrabbinat Bad Kissingen.

Die Kinder besuchten den Elementarunterricht in der katholischen Volksschule und wurden in einem angemieteten Wohnhaus durch einen Privatlehrer in jüdischer Religion unterwiesen. 1835 erreichte der jüdische Bevölkerungsanteil mit 131 Personen seinen Höchststand. Zu dieser Zeit hatte sich das Erwerbsleben bereits stark verändert: es gab nun im Dorf unter den Juden einen Kaufmann, drei Landwirte, vier Metzger, einen Bäcker und Wirt, einen Seifensieder und "Garküchner", einen Glaser, einen Schuhmacher und neun „Handelsjuden“, darunter vier mit Schnittwaren, zwei Viehhändler, einen Kupfer- und Eisenhändler, einen Spezerei- und einen Bettfedernhändler, sowie zwei Schmuser. Aufgrund der gescheiterten Märzrevolution 1848/1849 und des beschränkten wirtschaftlichen Aktionsradius für Juden wanderten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele junge jüdische Gemeindeglieder v.a. nach Nordamerika aus. 1848 umfasste die Gemeinde noch 20 Familien (120 Personen).

Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jh. verringerte sich die Zahl der Gemeindemitglieder durch Aus- und Abwanderung. Grund dafür war die Aufhebung des Matrikelparagraphen im Jahr 1861. Von nun an durften die Juden ihren Aufenthaltsort frei wählen. Zehn Jahre später, 1871, trat die Verfassung des Deutschen Kaiserreiches in Kraft, die auch für Bayern gültig war und nun die vollständige rechtliche Gleichstellung der Juden mit sich brachte. Die IKG Poppenlauer erwarb 1857 ein Grundstück südlich der Güntersgasse an der Lauer, um hier eine neue Mikwe (Plan-Nr. 343 ½; heute Teil des Grundstücks Güntersgasse 13) zu errichten. Das kleine Häuschen mit Satteldach verfügte nur über einen Raum. In der einen Zimmerhälfte lag der Vorraum. Von ihm führte im rechten Winkel eine Treppe hinab zum Tauchbecken, das mit Flusswasser gespeist und durch einen Ofen erwärmt wurde.

1867 zählte die IKG noch 97 Mitglieder. In diesem Jahr wurde ein neues Gemeindezentrum mit Synagoge (Haus-Nr. 70) und Religionsschule (Haus-Nr. 69) mit großem Schulraum im Erdgeschoss und Wohnung für den Religionslehrer und Vorbeter im Obergeschoss eingeweiht. 1879 erweiterte die Kultusgemeinde ihre Religionsschule zur jüdischen Elementarschule, die bis 1923 bestand. Damals war die Anzahl der schulpflichtigen Kinder durch den Zuzug einiger jüdischer Familien kurzfristig auf 24 Kinder angestiegen. Zur Kultusgemeinde gehörten 1880 wieder 111 Mitglieder, deren Zahl fiel dann jedoch bis zum Jahr 1900 auf 59 Personen. Schon 1895 konnten die Poppenlauer Juden die Aufwendungen für ihre Schule nicht mehr tragen und erhielten vom Landratsamt eine finanzielle Unterstützung.

Bis in die 1920er Jahre lebten noch rund 60 Personen jüdischen Glaubens im Dorf. Da sich mit der Mitgliederzahl auch die Einkünfte der Gemeinde stark reduzierten, fiel es zunehmend schwer, die nötigen Bauvorhaben und Reparaturen zu finanzieren. Ab 1910 erhielt die IKG Poppenlauer regelmäßig Zuschüsse von der Regierung. So konnte sie 1911 das Schulhaus und das Ritualbad renovieren, im Folgejahr die Abortanlagen und 1913 die Leichenwagenhalle sanieren. Zwischen 1928 und 1931 fielen eine Reparatur des Synagogendachs, der Bau einer neuen Senkgrupe und die Restaurierung von Büchern an, für die Finanzierungsmittel bei der VBIG beantragt wurden. Nachdem in Maßbach 1903 ein neuer jüdischer Friedhof eingerichtet worden war, bestatteten die Poppenlauer Juden ihre Toten nun ebenfalls dort und gründeten 1917 zusammen mit der Maßbacher Gemeinde eine Beerdigungsgemeinschaft.

1933, im Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten, gab es noch 49 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger im Dorf. Sie waren in der Folgezeit zunehmend von Diffamierungen, Repressalien sowie gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ausgrenzungen betroffen. Die vier hier lebenden jüdischen Kinder wurden 1935 von der Volksschule ausgeschlossen. Bereits vor dem Novemberpogrom 1938 kam es immer wieder zu tätlichen Angriffen auf Israeliten und zu mutwilligen Beschädigungen ihres Besitzes. Trotzdem standen viele Bauern noch längere Zeit in Geschäftsbeziehungen mit den jüdischen Viehhändlern. 1938 waren noch fünf jüdische Viehhändler und zwei jüdische Läden für Stoffe bzw. Schuhe am Ort geöffnet. Im September 1938 umfasste die Kultusgemeinde noch 24 Personen. Sehr viele jüdische Mitbürger waren bereits emigriert; der Großteil von ihnen in die USA, je einer nach Palästina und Argentinien; 4 zogen in deutsche Großstädte um.

Am frühen Morgen des 10. November 1938 kamen unter der Leitung des SA-Sturmführers 60 SA-Leute aus Maßbach nach Poppenlauer. Gemeinsam mit örtlichen SA-Leuten und vielen Einheimischen sammelten sie sich am Marktplatz und zogen dann in kleinen, mit Pickeln und Knüppeln bewaffneten Trupps durch den Ort. Der Mob schlug die Türen und Fenster der jüdischen Wohnungen, Häuser und Geschäfte ein, demolierte die Einrichtung, vernichtete Hausrat, Vorräte und Waren. Auch die Synagoge und die Schule wurden gewaltsam aufgebrochen und verwüstet. Eine Reihe jüdischer Männer wurde anschließend verhaftet und tagelang im Amtsgerichtsgefängnis von Bad Kissingen festgehalten.

Zum 1. Januar 1939 mussten alle jüdischen Ladenbesitzer ihre Geschäfte schließen. Der jüdische Haus- und Grundbesitz wurde zwangsweise „arisiert“. Die politische Gemeinde Poppenlauer erwarb 1940 das jüdische Mehrzweckhaus mit Synagoge, Wohnung und Schule zu einem Spottpreis. Die Mikwe, die 1935 noch mit Hilfe eines Zuschusses durch die VBIG renoviert worden war, fiel 1940 in Privatbesitz. In der Folgezeit nutzte ein Drechsler den Raum als Werkstatt. Bis 1941 gelang noch einigen Poppenlauer Jüdinnen und Juden die Emigration nach Nordamerika. Im Januar 1942 mussten Juden ihre Pelz- und Wollbekleidung abliefern. Im Februar und Mai 1942 hat man die letzten 22 jüdischen Ortsbewohner von Poppenlauer in die NS Vernichtungslager im Osten deportiert, davon 14 nach Izbica bei Lublin und sieben nach Theresienstadt. Dort wurden sie von den Nationalsozialisten grausam ermordet.

Im Oktober 1949 fand vor dem Landgericht Schweinfurt ein Prozess gegen 21 Teilnehmer der Ausschreitungen vom November 1938 statt. Neun Angeklagte erhielten Freiheitsstrafen zwischen zwei bis neun Monaten. Der Hauptbeschuldigte wurde zu einer Gefängnisstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt. Acht Männer wurden freigesprochen; den übrigen konnte man mangels Beweisen keine Taten nachweisen.

Das einstige jüdische Gemeindehaus mit Synagoge, Schule und Lehrerwohnung (Gehrigsgasse 5) hat sich, durch Umbauten stark überformt, als Wohnhaus erhalten. Anstelle des ehemaligen Stiftungshauses der jüdischen Gemeinde (Haus-Nr. 71, heute: Gehrigsgasse 3), in dem einst u.a. der Synagogendiener wohnte, befindet sich heute ein Neubau. Die einstige Mikwe (Plan-Nr. 343 ½) wurde in der Nachkriegszeit abgerissen und ist heute ein Teil des Grundstücks Güntersgasse 13.

Zur Erinnerung an das schreckliche Schicksal jüdischer Mitbürger aus Poppenlauer verlegte die Gemeinde 2020 insgesamt 21 Stolpersteine im Ort. Für das Projekt „DenkOrt Deportationen“ in Würzburg wurden zwei Holzkoffer beigesteuert, zur Erinnerung an die Jüdinnen und Juden, die aus dem Dorf über Würzburg in die Vernichtungslager deportiert wurden.

 

(Christine Riedl-Valder)

Bilder

Bevölkerung 1910

Literatur

  • Cornelia Berger-Dittscheid: Poppenlauer. In: Wolfgang Kraus, Hans-Christoph Dittscheid, Gury Schneider-Ludorff (Hg.): Mehr als Steine… Synagogen-Gedenkband Bayern, Bd. III/2: Unterfranken Teilband 2.1. Erarbeitet von Cornelia Berger-Dittscheid, Gerhard Gronauer, Hans-Christof Haas, Hans Schlumberger und Axel Töllner unter Mitarbeit von Hans-Jürgen Beck, Hans-Christoph Dittscheid, Johannes Sander und Elmar Schwinger, mit Beiträgen von Andreas Angerstorfer und Rotraud Ries. Lindenberg im Allgäu 2021, S. 254-273.
  • K. statistisches Landesamt: Gemeindeverzeichnis für das Königreich Bayern. Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 und dem Gebietsstand von 1911. München 1911 (= Hefte zur Statistik des Königreichs Bayern 84), S. 226.