Jüdisches Leben
in Bayern

Nordheim vor der Rhön Gemeinde

Die Entstehung der jüdischen Gemeinde in Nordheim reicht in das 17. Jahrhundert zurück. 1699 standen drei Juden mit ihren Familien unter dem Schutz der Familie von der Tann, die im Gelben Schloss am rechten Ufer der Streu lebten. Zwischen 1712 und 1715 entstanden auf Veranlassung der Freiherren von der Tann zwei für die Unterbringung von Schutzjuden bestimmte Häuser. In der Mitte des 18. Jahrhunderts lebten auch zwei Schutzjuden des Hochstifts Würzburg im Ort. Ende des 18. Jahrhunderts wohnten drei würzburgische mit 15 und 14 ritterschaftliche Schutzjuden mit 49 Personen im Dorf. Zehn von der Tann'sche Schutzjuden lebten im Gelben Schloss und vier im Alten Schloss, dem alten Hauptbau.  

Nach dem Aussterben der Nordheimer Linie der Freiherren von der Tann erwarben Juden bis auf den Mansardenwalmdachbau alle Häuser des Gelben Schlosses und richteten im Turmbau eine Synagoge ein ("Judentempel"). 1817 trugen sich 14 jüdische Familienvorstände in die bayerische Judenmatrikel ein. Um 1820 besaß Koppel Salomon, der 1817 den Nachnamen "Stein" angenommen hatte, mit 3000 Gulden das größte Vermögen der jüdischen Gemeindemitglieder. Nachdem die Zahl der jüdischen Bewohner bis 1837 auf 80 Personen gewachsen war, betrug sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts nurmehr 54 Personen, um dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erneut anzusteigen.

Spätestens seit den 1860er Jahren unterrichtete ein Religionslehrer die jüdischen Kinder in Oberelsbach und Nordheim. Beispielsweise wurden 1869 die fünf schulpflichtigen jüdischen Kinder aus Nordheim zweimal in der Woche vom Oberelsbacher Religionslehrer unterrichtet.1883 wurde der Sitz der jüdischen Religionsschule von Oberelsbach nach Nordheim verlegt. Da die Nordheimer Religionsschule nun überörtliche Bedeutung besaß, erwarb die Nordheimer Kultusgemeinde ein Wohnhaus, in dem nach dem Umbau 1893 die repräsentativere Israelitische Religionsschule eröffnet wurde. Die jüdische Gemeinde gehörte von 1840 bis 1892/93 zum Rabbinatsbezirk Gersfeld (Hessen), danach zum Distriktsrabbinat Bad Kissingen. Die Verstorbenen wurden auf dem jüdischen Friedhof in Neustädtles, teils auch in Kleinbardorf bestattet. 

Ende des 19. Jahrhunderts kam es gelegentlich zu antisemitischen Vorfällen, als beispielsweise der zuständige evangelische Sondheimer Pfarrer Carl Binder 1884 den jüdischen Viehhändlern aus Nordheim vorwarf, sie würden einen negativen Einfluss auf die Bevölkerung ausüben. Acht Jahre später wollte ein Kaufmann in einem Prozess einen Zeugen überreden, falsch gegen einen jüdischen Viehhändler aus Nordheim auszusagen, da man gegenüber Juden nicht zur Wahrheit verpflichtet sei. 1890 zählte die jüdische Gemeinde 86 Personen. Zu dieser Zeit gehörten rund elf Prozent der Einwohner von Nordheim der jüdischen Gemeinde an. 

Im Jahr 1900 war die Zahl der Nordheim lebenden Jüdinnen und Juden bereits stark gesunken, als noch 59 Personen der jüdischen Gemeinde angehörten. Zehn Jahre später wohnten noch 47 jüdische Personen im Ort und machten so rund fünf Prozent der Bevölkerung aus. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war Adolf Stein der erfolgreichste Nordheimer Jude: Der Inhaber von fünf Basaltwerken gehörte mit 300 Mitarbeitern zu den größten Arbeitgebern in der Rhön. Seit 1903 lebte Stein jedoch in Schweinfurt. 1910 gehörte die jüdische Kultusgemeinde Nordheim zu den ärmsten israelitischen Kultusgemeinden in Unterfranken und erhielt deswegen von der Kreisregierung einen Zuschuss in Höhe von 50 Mark. Da sich die finanzielle Situation der Gemeinde in den folgenden Kriegsjahren nicht verbesserte, wurde der Zuschuss bis mindestens 1916 weitergezahlt. 1924 gehörten der jüdischen Gemeinde in Nordheim 32 Personen an, die rund drei Prozent der Einwohner ausmachten. Zwei Jahre später ernannte die jüdische Gemeinde Adolf Stein zum Ehrenmitglied, nachdem er zuvor bereits zum Ehrenbürger der Gemeinde Nordheim ernannt worden war. 1928 wurde der erfolgreiche Geschäftsmann auch mit dem Titel eines "Kommerzienrats" geehrt. Wie Adolf Stein blieb auch sein Bruder Salomon Stein (1866-1938), der seit 1890 als Bezirksrabbiner in Schweinfurt wirkte, sein Leben lang Nordheim eng verbunden. 

Anfang 1934 kam es zu mehreren antisemitischen Vorfällen im Dorf. Beispielsweise wurde in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1934 eine Fensterscheibe des Gasthauses Bienmöller eingeworfen, wo ein jüdischer Kaufmann aus Hammelburg übernachtet hatte. Im selben Jahr erteilte Lehrer Schloß nur noch vier Kindern in Nordheim jüdischen Religionsunterricht. Bis Mai 1937 hatte sich die Zahl der jüdischen Nordheimerinnen und Nordheimer auf elf Personen reduziert. Während des von Ostheimer SA-Männern am 9. und 10. November 1938 durchgeführten Pogroms wurden die Häuser und Geschäfte der meisten jüdischen Dorfbewohner verwüstet. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 erlag Karl Schuster einem Herzinfarkt oder Schlaganfall, nachdem die SA-Männer auch seine Wohnung verwüstet hatten. Weitere antisemitische Ausschreitungen fanden auch am 9. November 1939 statt, als rund 50 Schulkinder einige Fensterscheiben von jüdischen Hausern einwarfen. Am 25. April 1942 wurden vier jüdische Nordheimer Juden von Würzburg in die Vernichtungslager bei Lublin deportiert. Rund ein halbes Jahr später wurde auch das Ehepaar Adler am 23. September 1942 von Würzburg nach Theresienstadt deportiert. Während Julius Adler dort vermutlich am 21. November 1942 starb, wurde Jette Adler am 18. Mai 1944 nach Auschwitz transportiert, wo sie vermutlich sofort getötet wurde. Insgesamt fielen der Shoah 13 Jüdinnen und Juden, die in Nordheim geboren waren, und 6 weitere die während der NS-Zeit im Ort gelebt hatten, zum Opfer. 

2017 besuchte der US-Amerikaner Leslie Samuel, dessen Vorfahren aus Nordheim stammte, die Heimat seiner Ahnen. Dort nahm er an der Verlegung von 17 Stolpersteinen teil, die an Opfer der Gewaltherrschaft, aber auch an emigrierte Gemeindemitglieder erinnern.


(Stefan W. Römmelt)

Bilder

Bevölkerung 1910

Literatur

  • Gerhard Gronauer / Hans-Christof Haas: Nordheim vor der Rhön mit Hausen. In: Wolfgang Kraus, Hans-Christoph Dittscheid, Gury Schneider-Ludorff (Hg.): Mehr als Steine… Synagogen-Gedenkband Bayern, Bd. III/2: Unterfranken Teilband 2.1. Erarbeitet von Cornelia Berger-Dittscheid, Gerhard Gronauer, Hans-Christof Haas, Hans Schlumberger und Axel Töllner unter Mitarbeit von Hans-Jürgen Beck, Hans-Christoph Dittscheid, Johannes Sander und Elmar Schwinger, mit Beiträgen von Andreas Angerstorfer und Rotraud Ries. Lindenberg im Allgäu 2021, S. 799-818.
  • K. statistisches Landesamt: Gemeindeverzeichnis für das Königreich Bayern. Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 und dem Gebietsstand von 1911. München 1911 (= Hefte zur Statistik des Königreichs Bayern 84), S. 234.