Jüdisches Leben
in Bayern

Neubrunn Gemeinde

Seit 1290 gehörte Neubrunn dem Deutschen Orden und war als Kommende der Ordensprovinz (Ballei) Franken zugeordnet. Kaiser Ludwig IV. der Bayer verlieh dem Ort 1323 das Stadtrecht, woraufhin die Deutschordensritter einen Mauerring errichteten. Im Jahr 1438 ging die Stadt in einem Rechtsstreit an Kurmainz (woran noch die Wappen am Schlosstor erinnern) und kam 1655 durch Kauf an das Hochstift Würzburg. Nach der Säkularisation fiel Neubrunn 1814 endgültig an das Königreich Bayern. Die Entstehung einer Kehillah in Neubrunn ist im 18. Jahrhundert zu verordnen. Aus dieser Zeit stammte wohl auch die Synagoge in der Steilersgasse 17.

Die Kultusgemeinde wird aber erst ab dem frühen 19. Jahrhundert greifbar, als die bayerischen Beamten bei der Vergabe der Matrikelstellen 1817 zehn Haushalte verzeichnen: 1. Jaidel Gumpel Thalmann (Warenhandel), 2. Simon Gumpel Thalmann (Warenhandel), 3. Behrmann Jacob Roßwald (Warenhandel und Schmusen, d.h. Handelsvermittlung), 4. Abraham Joel Feigenbaum (Leder- und Viehhandel, Schächterei), 5. Israel Leser Buhlmann (Warenhandel), 6. Moses Leser Kriegsmann (Schuhflicken), 7. Witwe von Samson Michel Hilder (Vieh- und Lederhandel, Schlachterei), 8. Samson Löw Hilder (Vieh- und Lederhandel, Schlächterei), 9. Pfeufer Samson Hilter (Vieh- und Lederhandel, Schlächterei), 10. Faust Samson Hilder (Vieh- und Lederhandel, Schochet).

Auffällig sind die fünf Schächter bzw. Metzger. Wahrscheinlich haben sie auch die christlichen Nachbarn mit Fleisch beliefert, ansonsten lässt sich die Dichte ökonomisch nicht nachvollziehen. Im Jahr 1833 bestand die jüdische Gemeinde aus elf Familien mit insgesamt 49 Personen. Neben der Synagoge unterhielt sie eine jüdische (Religions-)schule und eine Mikwe – wahrscheinlich alles unter einem Dach. Die Gemeinde gehörte dem Distriktsrabbinat Würzburg an, begrub aber ihr Toten seit dem 18. Jahrhundert auf dem Friedhof im badischen Wenkheim. Die Kinder gingen mit den christlichen Nachbarn in die staatliche Schule vor Ort. In den 1830er Jahren setze die große jüdische Auswanderungswelle ein, wegen der viele historische Landgemeinden in langsamer Agonie verebbten. Zumeist war es die Jugend, die sich vor allem in Nordamerika eine wirtschaftlich und gesellschaftlich bessere Zukunft erhoffte. Andere zogen ab 1861 in größere Zentren der Umgebung, vor allem nach Wertheim und Marktheidenfeld. 1875 lebten nur noch 15 Juden in Neubrunn, 1911 waren es sechs. 

Als in diesem Jahr der Vorsänger Josef Sämann mit nur 41 Jahren starb, bedeutete dies für die betagten Eltern den Wegfall ihrer Altersstütze, und für die Gemeinde das Fanal: Sie löste sich auf, das ohnehin nur noch selten benutzte Synagogengebäude wurde an eine Privatperson verkauft und steht noch heute. Während des I. Weltkriegs fiel 1917 der gebürtige Neubrunner Simon Levi aus Marktheidenfeld. Fünf Jüdinnen und Juden, die in Neubrunn geboren wurden oder dort zumindest einige Zeit gelebt hatten, starben in der Shoah. Die hoch dekorierte französische Historikerin Prof. Rita Thalmann (1926-2013, Schwerpunkt Geschichte des Nationalsozialismus) war die Tochter des Nürnberger Textilgroßhändlers Nathan Thalmann, einen Nachfahren aus der Neubrunner Urfamilie. 


(Patrick Charell)

Bevölkerung 1910

Literatur

  • Israel Schwierz: Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation. 2. Aufl. München 1992 (= Bayerische Landeszentrale für politische Bildung A85), S. 102f.
  • Dirk Rosenstock (Bearb.): Die Unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle. Würzburg 2008 (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg 19), S. 162f.
  • K. statistisches Bureau: Ergebnisse der Volkszählung im Königreiche Bayern am 1. Dezember 1875 [...]. München 1877 (= Hefte zur Statistik des Königreichs Bayern 36). S. 203.
  • K. statistisches Landesamt: Gemeindeverzeichnis für das Königreich Bayern. Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 und dem Gebietsstand von 1911. München 1911 (= Hefte zur Statistik des Königreichs Bayern 84), S. 232.