Jüdisches Leben
in Bayern

Mellrichstadt Gemeinde

Eine jüdische Gemeine bestand in Mellrichstadt möglicherweise bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ob die vier Juden Nechemia ben Jechiel, Elieser, Sohn des Märtyrers Joez, Samuel ben Jechiel und Isak ben Gerschom, die am 31. März 1283 in Mellrichstadt verbrannt wurden, zuvor dort gelebt hatten, bleibt unklar. 15 Jahre später waren auch Mellrichstädter Juden vom Rintfleisch-Pogrom des Jahres 1298 betroffen. Im 14. Jahrhundert sind keine Juden in Mellrichstadt nachweisbar. Um 1400 ließen sich wieder Juden in Mellrichstadt nieder, die als Geldhändler tätig waren.

1411 stellte der Würzburger Fürstbischof Johann II. von Brunn (reg. 1411-1440) als Stadtherr einen Schutzbrief für die im Geldhandel tätigen Salomon und Selickmann aus, der auch das Pfandleihgeschäft regelte und 1414 erneuert wurde. In der Mitte des 15. Jahrhunderts mussten wohl auch die Mellrichstädter Juden den Ort nach dem Niederlassungsverbot des Fürstbischofs Gottfried IV. Schenk von Limpurg (reg. 1433-1455) verlassen.

In der Mitte des 16. Jahrhunderts lebten wahrscheinlich wieder Juden in Mellrichstadt, wo in den 1560er und 1570er Jahren zumindest zwei Juden ansässig waren. Mit dem Ausweisungsedikt Fürstbischof Julius Echters von 1575 endete dieses Intermezzo, erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges konnten sich Würzburgische Schutzjuden dauerhaft in der Stadt niederlassen. Zu ihnen gehörten auch Lipmann und Simon, die sich am 26. August 1654 über den Judenzoll im benachbarten Ostheim vor der Rhön beschwerten. Ende des 17. Jahrhunderts wohnten 1699 15 Jüdinnen und Juden in Mellrichstadt, deren Präsenz durch zeitlich unbefristete Schutzbriefe abgesichert war. Zu der kleinen jüdischen Gemeinde gehörte auch mehrere Lehrer: 1660 und 1699 sind jeweils drei und 1690, 1731, 1738 und 1746 jeweils vier Lehrer nachweisbar. In der Mitte des 18. Jahrhunderts besuchte der Mellrichstädter Jude Mendel (Mommele) Meyer von 1758 bis 1760 und von 1762 bis 1764 die Leipziger Messe.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es zu einigen Konversionen, als 1772 Schmuhl mit seiner Familie und 1779 eine weitere, achtköpfige jüdische Familie zum christlichen Glauben übertraten. Rund zehn Jahre später gelang es Moyses Mandel 1788, von Fürstbischof Franz Ludwig von Erthal (reg. 1779-1795) einen Schutzbrief zu erhalten, obwohl die städtischen Behörden und der für Mellrichstadt zuständige Vertreter des Hochstifts Würzbug seinen Antrag abgelehnt hatten.  

1803 lebten in Mellrichstadt acht Schutzjuden. Die jüdische Gemeinde bestand zu dieser Zeit aus 37 Personen. Nach dem Übergang Mellrichstadts an das Königreich Bayern wurden 1817 neun jüdische Haushalte in die Matrikel aufgenommen, die sich vor allem vom Verkauf von Schnitt- und Spezereienwaren ernährten. Nach der Aufhebung des Matrikelparagraphen 1861 wuchs die Gemeinde deutlich und hatte sich 1867 gegenüber 1830 mehr als verdoppelt. Viele Familien waren aus der Umgebung zugezogen, u.a. aus Mühlfeld, Oberstreu und Mittelstreu. Laut einer Aufstellung vom 25. April 1874 gehörten zu ihr 21 Haushaltsvorstände mit insgesamt 84 Personen, darunter zehn Kaufleute, drei Viehhändler, ein Kürschner, ein Lehrer, ein Weber und ein Metzger. An Einrichtungen hatte die jüdische Gemeinde eine Synagoge, eine Religionsschule, ein rituelles Bad (1869) und einen Friedhof. Zur Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war ein Melamed angestellt, der zugleich als Chasan und Schochet amtierte. Von den Lehrern werden genannt: David Lehmann (bis 1879, danach in Bad Brückenau), 1879 Samuel Maas und 1893 bis 1924 Viktor Gottlieb. Die jüdische Gemeinde gehörte von 1840 bis 1892/93 zum Bezirksrabbinat Gersfeld (Hessen), danach zu Bad Kissingen. Ihre Toten wurden bis zur Anlage einer eigenen Begräbnisstätte 1869 auf dem Verbandsfriedhof in Kleinbardorf beerdigt.

Am 20. Mai 1877 gab sich die Kultusgemeinde Statuten, die die Verantwortlichkeiten der Gemeindeorgane und die Rechte und Pflichten der Gemeindemitglieder regelte. Gelegentlich kam es wie im Sommer 1879, als am Mellrichstädter Rathaus zwei diffamierende Plakate angebracht wurden, zu antisemitischen Ausfällen. Seit 1881 war die jüdische Volksschule im Gebäude der ehemaligen städtischen Schule untergebracht. 1884 besuchten werktags sechs und sonntags vier Kinder die jüdische Volksschule. Die Bereitschaft der jüdischen Gemeinde zur Integration in die christliche Mehrheitsgesellschaft zeigte sich am 8. Januar 1899, als im Rahmen einer Ehrung jüdischer und christlicher Veteranen der Festgottesdienst in der Synagoge nicht am Samstag, sondern zeitgleich mit den katholischen und evangelischen Gottesdiensten am Sonntagvormittag stattfand.

Um 1900 hatten sich die Mellrichstädter Juden im der Kleinstadt gesellschaftlich und ökonomisch etabliert und 1910 mit 165 Personen den Höchststand ihrer Mitgliederzahl erreicht. Zwei Jahre später stiftete der in Mellrichstadt geborene Chemnitzer Fabrikant Nathan Stern 1912 seiner Geburtsstadt einen auf dem Marktplatz aufgestellten, repräsentativen Brunnen, der an das 25-jährige Regierungsjubiläum des Prinzregenten Luitpold im Jahr 1911 erinnerte. Stern erhielt hierfür die Ehrenbürgerwürde seiner Vaterstadt. Auch Max Stern, der Bruder Nathan Sterns, zeigte bürgerschaftliches Engagement: Der Stadtrat, der Anfang 1912 außerdem in den städtischen Bauausschuss berufen wurde, entschloss sich im selben Jahr, seiner Heimatstadt ebenfalls einen Brunnen zu stiften. Das Monument wurde vor der katholischen Stadtpfarrkirche an einer Stützmauer angebracht. Nachdem im gleichen Jahr der Bad Kissinger Bezirksrabbiner festgestellt hatte, dass die Mikwe nicht mehr den hygienischen Standards entsprach, wurde das Ritualbad notgedrungen saniert.

Im selben Jahr kam es zu einem Konflikt zwischen dem renommierten Metzger Philipp Katz und Bezirksrabbiner Bamberger, als der Handwerker die Anschaffung eines teuren Koscher-Stempels ablehnte. Ein Jahr später zeigte der Lehrer Gottlieb Katz erneut bei dem Rabbiner an, da dieser das Fleisch nicht ordnungsgemäß wässere. Während des Ersten Weltkriegs fielen zwölf jüdische Mellrichstädter, an die einige Jahrzeitstiftungen erinnerten. Von 1922 bis 1938 fungierte Guido Prager als erster Vorsitzender der Kultusgemeinde, die sich bereits 1923 mit vereinzelten antisemitischen Übergriffen konfrontiert sah. Seit März 1924 hielt Lehrer Gottlieb auch in Nordheim v. d. Rhön den israelitischen Religionsunterricht. Als der Pädagoge ein halbes Jahr später starb, erwiesen ihm auch die Lehrkräfte der nichtjüdischen Schulen und die Vertreter der örtlichen Vereine die letzte Ehre. Gottliebs Nachfolge trat Jacob (Jakob) Schloß an, der bereits 1929 50-jährig verstarb. Nachdem die jüdische Volksschule in den 1920er Jahren aufgelöst worden war, besuchten die jüdischen Kinder die katholische Volksschule. Die am 27. November 1927 veröffentlichten, neuen Statuten der Mellrichstädter Gemeinde beschrieben Kultus, Religionsunterricht und Wohlfahrtspflege als zentrale Aufgaben der Gemeinde und ermöglichten es auch nicht in Mellrichstadt lebenden Juden, Mitglied der Gemeinde zu werden. Frauen, falls sie selbstständig Steuern zahlten, hatten nur in der Gemeindeversammlung ein Stimmrecht. 1930 sorgte für die Bestattung der männlichen Toten die Chevra Kadischa (Heilige Bruderschaft), während sich der "Israelitische Frauenverein" (Heilige Schwesternschaft), um die weiblichen Verstorbenen kümmerte.

Bereits am 14. August 1933 erkannte die Stadt Nathan Stern die Ehrenbürgerschaft wieder ab. Während zahlreiche nicht-jüdische Hausangestellte ihren jüdischen Arbeitgebern so lange wie möglich die Treue hielten und auch etliche Landwirte weiterhin die Geschäftsbeziehungen zu den jüdischen Viehhändlern pflegten, sahen sich beispielsweise jüdische Schulkinder wie Robert und Siegfried Rothschild auf dem Schulweg mit zunehmender Diskriminierung konfrontiert. Den Freitod wählten Lehrer Jacob Schloß und Adolf Blum. Da die Mellrichstädter Synagoge bereits vor der Reichspogromnacht zerstört wurde, richtete sich eine weitere antisemitische Ausschreitung in der Nacht vom 10. auf den 11. November 1938 gegen den Prinzregent-Luitpold-Brunnen, dessen (bayerischer!) Löwe gewaltsam abgenommen und vor die Tür des jüdischen Metzgers Philipp Katz gestellt wurde. Danach ließ Bürgermeister Alfons Halbig den Brunnen abbauen und einlagern. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich bereits einige jüdische Mellrichstädter in "Schutzhaft", die aber zum Teil gegen das Versprechen der Veräußerung ihres Immobilienbesitzes und der baldigen Emigration freigelassen wurden.

36 Juden, die der 1933 126 Personen umfassenden jüdischen Gemeinde in Mellrichstadt angehörten, emigrierten hauptsächlich in die USA. Am 7. Februar 1942 lebten noch 39 Jüdinnen und Juden in Mellrichstadt, von denen 24 Personen am 25. April 1942 nach Krasniczyn deportiert und in den Vernichtungslagern der Region ermordet wurden. Im "Rhön- und Streuboten" vom 22. Juni war schließlich in einem Bericht über einen Sommerdienstappell der Ortsgruppe der NSDAP zu lesen: "Ortsgruppenleiter Schuhmann, Lehrer, verkündet als 1. Tagesordnungspunkt die erfreuliche Tatsache, dass Mellrichstadt nunmehr judenfrei ist'". Ein halbes Jahr später wurden die über 60-jährigen Mellrichstädter Juden am 23. September nach Theresienstadt deportiert. Insgesamt fielen 38 in Mellrichstadt geborene Jüdinnen und Juden bzw. rund 50 Personen, die während der NS-Zeit in Mellrichstadt hatten, der Shoah zum Opfer.

Am 21. Mai 2004 wurde am Unteren Stadteingang, and er Durchfahrt des Rathauses ein von dem in Mellrichstadt geborenen Alfred Grünstein gestiftetes und von dem Künstler Peter-Lorenz Emmert geschaffenes Mahnmal zur Erinnerung an die jüdischen Bürger Mellrichstadts enthüllt. Seit 2015 erinnert eine Gedenktafel an der Wand des Verwaltungsgebäudes neben dem neuen Standort des Prinzregent-Luitpold-Brunnens an die deportierten Mellrichstädter Jüdinnen und Juden. Außerdem beteiligte sich die Kommune an der Initiative DenkOrt Deportationen 1941-1944 in Würzburg und installierte 2021 unter der Gedenktafel eine kofferförmige Skulptur. Der Platz wurde zu Ehren des einstigen Wohltäters in "Nathan-Stern-Platz" umbenannt. Ein identisches Gegenstück ergänzt den Denkort auf dem Würzburger Bahnhofsplatz. Das ehemalige jüdische Schulhaus wurde 2018/2019 renoviert und zu einem Wohnhaus für Asylbewerber umgebaut.


(Stefan W. Römmelt)

Bilder

Bevölkerung 1910

Literatur

  • Gerhard Gronauer / Cornelia Berger-Dittscheid: Mellrichstadt. In: Wolfgang Kraus, Hans-Christoph Dittscheid, Gury Schneider-Ludorff (Hg.): Mehr als Steine… Synagogen-Gedenkband Bayern, Bd. III/2: Unterfranken Teilband 2.1. Erarbeitet von Cornelia Berger-Dittscheid, Gerhard Gronauer, Hans-Christof Haas, Hans Schlumberger und Axel Töllner unter Mitarbeit von Hans-Jürgen Beck, Hans-Christoph Dittscheid, Johannes Sander und Elmar Schwinger, mit Beiträgen von Andreas Angerstorfer und Rotraud Ries. Lindenberg im Allgäu 2021, S. 760-798.
  • Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (Hg.) / Cornelia Berger-Dittscheid (Bearb.): Mehr als Steine. Synagogen in Unterfranken. Eine Ausstellung des Staatsarchivs Würzburg in Kooperation mit dem Team des Synagogen-Gedenkbands Bayern und dem Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe. München 2021 (= Staatliche Archive Bayerns - Kleine Ausstellungen 68), S. 84-88 u. 99-101.
  • Aubrey Pomerance: Die Memorbücher der jüdischen Gemeinden in Franken. In: Michael Brenner / Daniela F. Eisenstein (Hg.): Die Juden in Franken. München 2012, S. 95-113.
  • K. statistisches Landesamt: Gemeindeverzeichnis für das Königreich Bayern. Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 und dem Gebietsstand von 1911. München 1911 (= Hefte zur Statistik des Königreichs Bayern 84), S. 233.