Jüdisches Leben
in Bayern

Lohr a.Main Gemeinde

Bereits Ende des 13. Jh. sind Jüdinnen und Juden in Lohr nachweisbar, denn das Nürnberger Memorbuch verzeichnet Opfer des Rintfleischpogroms im Jahr 1298 aus diesem Ort. Auch aus den Jahren 1331 und 1473 gibt es in den Quellen Hinweise auf Israeliten in Lohr, doch kann es sich dabei wohl nur um vorübergehende Aufenthalte einzelner Personen gehandelt haben. Erst in der 2. Hälfte des 16. Jh. ließen sich Juden für einen gewissen Zeitraum in der kurmainzischen Stadt nieder. Bei ihnen handelte es sich vermutlich um Vertriebene aus dem nahegelegenen Würzburger Hochstiftsgebiet. Der Mainzische Amtmann Hans Leonhard Kottwitz von Aulenbach ließ sie jedoch 1573 ausweisen. Ab 1599 war den Israeliten auch im Erzstift Mainz die Ansiedelung generell verboten. Trotzdem hielten sich im ersten Drittel und gegen Ende des 17. Jh. immer wieder Juden in der Stadt auf. 1692 ging die Bürgerschaft von Lohr gegen zwei jüdische Händler vor, die sich hier niederlassen wollten. Die judenfeindliche Gesinnung der Bevölkerung wurde gestützt durch die populäre Ursprungslegende der Lohrer Wallfahrtskapelle Maria Buchen (1461 erstmals geweiht), der zufolge ein Jude durch einen frevelhaften Messerstich ein Bildnis der Gottesmutter geschändet habe.

Da auch bei der Einführung des bayerischen Judenedikts im Untermainkreis 1817 noch keine Juden in Lohr lebten, wurden für die Stadt auch keine Judenmatrikel festgelegt. Bis zur Aufhebung des Matrikelparagraphen 1861 konnte es daher zu keiner Niederlassung von Israeliten kommen. 1862 siedelte sich als erster jüdischer Bürger Samuel Selig aus Steinbach hier an. Ihm folgten weitere israelitische Familien, so dass es drei Jahre später 7 jüdische Haushalte in Lohr gab. Bereits 1863 beantragten sie bei der Kreisregierung die Genehmigung einer Religionsschule, was ihnen jedoch verwehrt wurde. Damals gehörten die Lohrer Juden noch zur Steinbacher Kultusgemeinde und besuchten auch die dortige Synagoge. Doch 1864 erfolgte die Gründung der israelitischen Kultusgemeinde Lohr und die Wahl von Samuel H. Selig zum Vorstand. Wertvolle Informationen über die nachfolgenden Ereignisse in der jüdischen Gemeinschaft der Stadt zwischen 1867 und 1913 liefert ein Protokollbuch, das sich im Zentralarchiv (CAHJP) in Jerusalem erhalten hat. 1871 wurde ein stattliches Anwesen in der Fischervorstadt (Haus-Nr. 351, heute: Fischergasse 32) erworben und zum Gemeindehaus mit Synagoge, Unterrichtsraum und Mikwe umgebaut. In Anwesenheit des Bürgermeisters und des Stadtmagistrats eröffnete der Aschaffenburger Distriktsrabbiner dieses neue jüdische Zentrum feierlich am 18. November 1871. 

Im Jahr 1900 zählte die Lohrer Kultusgemeinde, in die vier Jahre zuvor die letzten Steinbacher Israeliten eingegliedert worden waren, über 90 Mitglieder. In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jh. sank deren Zahl jedoch wieder um die Hälfte. Zusätzlich befanden sich aber auch in der ab 1912 betriebenen, staatlichen Heil- und Pflegeanstalt während des Ersten Weltkriegs und in der Weimarer Republik viele jüdische Patienten aus dem gesamten Reichsgebiet. Diese Kranken litten sehr darunter, dass sie ihren religiösen Verpflichtungen nicht nachkommen konnten und kein koscheres Essen bekamen. Ab 1918 reiste der Aschaffenburger Bezirksrabbiner regelmäßig zur Seelsorge an und der „Fürsorgeverein für Israelitische Geisteskranke“, ebenfalls aus Aschaffenburg, bemühte sich um standesgemäße Verpflegung.

Das moderne Sanatorium war nach dem Plänen des Münchner Architekten Fritz Gablonsky (1876-1971) im sog. Pavillonstil errichtet worden. Daher plante die Kreisregierung, die sich erhöhte Patientenzahlen und damit größere Einnahmen erhoffte, indem sie die Attraktivität der Einrichtung für Israeliten erhöhte, einen eigenen Krankenpavillon mit Küche und Personalwohnung für kranke Juden. Den Entwurf für den Bau, der in zwei Etappen entstehen sollte, lieferte 1921 der angesehene Architekt Otto Leitolf, Direktor der Aschaffenburger Meisterschule für Bauhandwerker. Der Küchentrakt konnte ab 1924 bewirtschaftet werden. Seit Mitte der 1920er Jahre widmete sich der Lehrer i.R. Simon Strauß mit seiner Frau diesen Aufgaben. Er übernahm auch 1932 das Amt des Kultusvorstehers. Damals lebten in der Stadt rund 70 Israeliten, einschließlich der rund 25 Anstaltsbewohner.

Einen Skandal verursachte damals Bruno Rothschild, der einer angesehenen jüdischen Kaufmannsfamilie in Lohr entstammte. Er konvertierte nämlich unter dem Einfluss der charismatischen Therese Neumann aus Konnersreuth zum Katholizismus und erhielt 1932 die Priesterweihe.

Zu Beginn des NS-Gewaltregimes lebten in Lohr rund 70 Jüdinnen und Juden. Sechs von ihnen wanderten bis 1938 nach Palästina aus. Als Kultusvorstand agierte von 1932 bis 1939 Simon Strauß, dann Bernhard Hirsch. Bereits im März 1938 kam es durch Schaufenstereinwürfe zu einem großen Sachschaden an jüdischen Geschäften. Die Leitung der Heil- und Pflegeanstalt in Lohr schlug im Oktober 1938 in einem Bericht an die Regierung von Mainfranken vor, die koschere Verpflegung der kranken Israeliten in ihrem Sanatorium einzustellen. Es sei eine „in die neue Zeit nicht mehr recht passende Rücksicht auf jüdische Sonderwünsche.“ Der „Israelitische Pavillon“ könnte überhaupt rentabler verwendet werden, wenn man darin Beamtenwohnungen einrichten würde. Dieser Vorschlag wurde gebilligt und in die Tat umgesetzt. Am 10. November 1938 stürmten zwei SA-Mitglieder aus Lohr das Gebäude, in dem Simon Strauß, der Vorstand der Kultusgemeinde, arbeitete, verwüsteten alle Räume und vernichteten die koscheren Lebensmittel. Das Haus, das dem Fürsorgeverein gehörte, wechselte dann nach längeren Verhandlungen weit unter Wert den Besitzer. Es wurde in den Kriegsjahren Beamten als Wohnraum zur Verfügung gestellt.

Während des Novemberprogroms 1938 fielen SA-Trupps aus Lohr in die jüdischen Häuser ein, suchten nach Waffen, stahlen Wertgegenstände und brauchbare Möbel, zertrümmerten die Einrichtung und vernichteten dabei das gesamte Eigentum der israelitischen Familien. Der Sturmbannführer nahm sich mit einigen SA-Leuten mehrmals das jüdische Gemeindehaus vor und demolierte es dabei völlig. In der Nacht wurden die jüdischen Männer verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Nach diesen schrecklichen Erlebnissen wanderte viele jüdische Bürger in die Großstädte aus oder emigrierten ins Ausland. Im Mai 1939 umfasste die Judenschaft Lohr nur noch 23 Personen.

Der in Berlin lebende jüdische Kommerzienrat Josef Schlossmann (1860 Wiesenfeld – 1943 Theresienstadt) war der Sohn eines jüdischen Lederwarenhändlers in Lohr. Er hatte seit den 1930er Jahren der jüdischen Gemeinde, der katholischen und evangelischen Kirche, sowie den Wohltätigkeitsvereinen seiner Heimatstadt immer wieder hohe Geldbeträge zu gemeinnützigen und mildtätigen Zwecken gespendet. Trotzdem wurde er von den Nationalsozialisten aus der Liste der Ehrenbürger der Stadt gestrichen. Im August 1942 hat man ihn von Berlin nach Theresienstadt deportiert und dort am 4. Januar 1943 ermordet.

19 Israeliten aus der Heil- und Pflegeanstalt Lohr sind auf Anordnung des Innenministeriums im September 1940 in die Anstalt Eglfing-Haar verschleppt und von dort in die Tötungsstation Hartheim bei Linz deportiert worden, wo sie umgebracht wurden. Mit fingierten Sterbedaten versuchten die Nationalsozialisten anschließend, von der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland Tagespflegesätze für die schon längst Ermordeten zu kassieren. Außer den ermordeten Sanatoriums-Insassen wurden noch fünfzehn weitere einstige jüdische Mitbürger aus Lohr von anderen Orten aus in Vernichtungslager deportiert und starben dort durch die Nationalsozialisten und ihre Handlanger.

Vier Täter des Novemberpogroms in Lohr wurden vor dem Landgericht Aschaffenburg zu Gefängnisstraßen zwischen acht und zwölf Monaten verurteilt. Sie brauchten ihre Strafe jedoch nicht anzutreten, da ihnen die Internierungshaft, die sie bei der US-Army für die gleichen Verbrechen abzusitzen hatten, angerechnet wurde.

Der ehemalige „Israelitische Pavillon“ der Heil- und Pflegeanstalt, diente ab Herbst 1946 dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen als Krankenhaus. Gegen die Zahlung einer Ablösesumme ging das Gebäude 1950 in das Eigentum des Bezirks Unterfranken über. Das von den Nationalsozialisten veränderte städtische Denkmal für die Gefallenen und Vermissten des Ersten Weltkriegs wurde wieder mit dem ursprünglichen Relief des auferstandenen Christus, das von Josef Schlossmann gestiftet worden war, versehen und unter den Kriegsopfern der Name des jüdischen Gefallenen Benno Markus wieder ergänzt.

Vor dem Verwaltungsbau des Bezirkskrankenhauses, der Nachfolge-Institution der Heil- und Pflegeanstalt, erfolgte 1993 die Aufstellung des Bronzereliefs „Finaler Adam II“ des Künstlers Rainer Stoltz. Es erinnert an die ermordeten jüdischen Kranken aus dem einstigen Sanatorium. Die Stadt Lohr ließ an der Grafen-von-Rieneck-Straße einen Gedenkstein für ihre ehemaligen jüdischen Mitbürger und alle Opfer des Nationalsozialismus aufstellen.

 

(Christine Riedl-Valder)

Bilder

Bevölkerung 1910

Literatur

  • Schlumberger, Hans / Berger-Dittscheid, Cornelia: Lohr mit Steinbach, in: Wolfgang Kraus, Gury Schneider-Ludorff, Hans-Christoph Dittscheid, Meier Schwarz (Hrsg.): Mehr als Steine... Synagogen-Gedenkband Bayern, Band III/1: Unterfranken, Teilband 1. Erarbeitet von Axel Töllner, Cornelia Berger-Dittscheid, Hans-Christof Haas und Hans Schlumberger unter Mitarbeit von Gerhard Gronauer, Jonas Leipziger und Liesa Weber, mit einem Beitrag von Roland Flade, Lindenberg im Allgäu 2015, S. 257-271