Nachdem der Dreißigjährige Krieg viele Todesopfer gefordert hatte, waren weite Teile des Landes entvölkert. Vermutlich hat daher die Kurmainzische Regierung ab der 2. Hälfte des 17. Jh. in ihrem Herrschaftsgebiet gezielt Juden angesiedelt. Aus dem Jahr 1691 liegt ein Nachweis vor, dass in Kleinwallstadt damals bereits sechs jüdische Familien lebten. Anhand dieser Zahl darf man davon ausgehen, dass es zu diesem Zeitpunkt hier schon eine kleine Kultusgemeinde gab. 1715 wir die Judenschaft des Ortes als Miteigentümer des jüdischen Friedhofs „am Erbig“ in Schweinheim genannt. Zwei ihrer Vertreter unterzeichneten vier Jahre später die Gründungsurkunde der Beerdigungsgesellschaft dieser Begräbnisstätte.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahmen die Vorsteher der jüdischen Gemeinde von Kleinwallstadt mehrmals führende Funktionen innerhalb der Landjudenschaft im Obererzstift Mainz ein und vertraten in ihrem Distrikt den Mainzer Landesrabbiner. Um 1780 lebten im Ort rund 30 Jüdinnen und Juden in sechs Familien. Sie verdienten sich ihren Lebensunterhalt als Händler. Der Großteil verkaufte Viehhäute, Wolle oder Honig; der Schulmeister betrieb Viehhandel.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts wuchs die Kultusgemeinde von anfänglich 50 Mitgliedern (1808) auf rund 80 Personen (1900) an. Auch nachdem das bayerische Judenedikt 1813 die strikten Berufsbeschränkungen für Juden aufgehoben hatte, lebten die meisten jüdischen Familien in den nächsten Jahrzehnten noch immer vom Handel. Einige von ihnen erwarben landwirtschaftliche Flächen, die sie für den Eigenbedarf nutzten; nur eine Familie betrieb hauptberuflichen Feldbau.
Das 1829 erstmals erwähnte Gemeindehaus (Haus-Nr. 176, Rathausgasse 11) beherbergte die Synagoge, die Schule, die Lehrerwohnung und in einem südlichen Anbau die Mikwe. Hier fand der Religionsunterricht für die Kinder aus Groß- und Kleinwallstadt, Hofstetten, Ober- und Unterhausen und Sulzbach a.Main statt. Von 1824 bis 1830 war Löb Neumann in der Gemeinde als Lehrer, Vorsänger und Schächter angestellt. Sein ab 1832 tätiger Nachfolger David Kleiner beschwerte sich in der Folgezeit über nicht erfolgte Gehaltszahlungen, Schwierigkeiten bei der Unterrichtung der auswärtigen Kinder, fehlende Schulrequisiten sowie eine schadhafte und unzulängliche Dienstwohnung, so dass sich der zuständige Aschaffenburger Distriktsrabbiner Gabriel Neuburger und die Regierung zum mehrmaligen Einschreiten veranlasst sahen.
Nach erfolgten Renovierungen der betreffenden Räume und jahrelangem Ringen um angemessene Unterrichtsbedingungen entschloss sich die Kultusgemeinde 1898 zum Neubau eines Schulhauses und zur gleichzeitigen Gründung einer israelitischen Elementarschule. Zu diesem Zweck wurden die Grundstücke Plannr. 467 und 468 (heute: Hauptstraße 29) erworben. Darauf wurde ein zweigeschossiges Wohnhaus mit Backsteinverkleidung an der Süd- und Ostwand und niedrigem Walmdach errichtet. Die Hälfte des Erdgeschosses nahm das Schulzimmer ein. Es bot Platz für 30 Kinder. Im Obergeschoss lag die Lehrerwohnung. Westlich davon befanden sich ein schmales Nebengebäude mit Toiletten, ein Waschhaus, ein Holzlager und ein großer Garten.
1899 konnte die neue israelitische Elementarschule Kleinwallstadt feierlich eröffnet werden. Als Lehrer wurde der bis dahin schon als Religionslehrer, Vorsänger und Schächter im Ort tätige Simon Grünfeld berufen, der die dafür nötigen Qualifikationen vorweisen konnte. Der Unterrichtsbetrieb in der neuen Einrichtung musste schon nach 14 Jahren aufgrund der zu geringen Schülerzahlen eingestellt werden. Grünfeld wurde deshalb zum Dezember 1913 nach Heidingsfeld versetzt. Die noch verbliebenen Kinder mussten nicht in die örtliche katholische Volksschule, die von zwei Ordensschwestern geführt wurde, wechseln, sondern erhielten Privatunterricht durch den Schöllkrippener Religionslehrer Leo Schloß, der bis 1920 als Schulverweser in Kleinwallstadt arbeitete.
Bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 umfasste die Kultusgemeinde Kleinwallstadt noch 45 Mitglieder. Seit dem Herbst 1933 kam es im Ort immer wieder zu vereinzelten antisemitischen Terrorakten. In der Nacht vom 28. auf 29. Oktober wurde die Synagoge aufgebrochen und Kultgegenstände entwendet; am 11. Dezember wurden dem Metzger Otto Hahn die Ladenfenster eingeworfen; im Februar und März 1934 wurden mehrfach jüdische Häuser beschädigt und ein Brandanschlag auf die Synagoge vereitelt. Richard Grünebaum, der Vorstand der Kultusgemeinde, berichtete, dass zwischen Juli 1934 und Februar 1935 nahezu wöchentlich Übergriffe stattfanden und in der Neujahrsnacht 1935 die Synagogenfenster zertrümmert wurden. Die Täter konnten in allen Fällen nicht ermittelt werden. Als Folge davon mussten die jüdischen Familien ihre Fenster dauerhaft verbarrikadieren. Am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur im Jahr 1936 drangen zwei Brüder in die Kleinwallstädter Synagoge ein und störten mit zynischer Aggressivität das gemeinsame Gebet der versammelten Israeliten, so dass der Gottesdienst abgebrochen werden musste. Die Täter leugneten später ihre Tat; das Amtsgericht Obernburg verhängte gegen einen von ihnen eine Woche Gefängnis, der andere wurde freigesprochen.
All diese Anfeindungen führten dazu, dass viele der jüdischen Mitbürger ihre Heimat verließen. Sie flüchteten sich in die vermeintliche Anonymität der Großstädte oder emigrierten ins Ausland. Zum Jahresbeginn 1938 lebten noch 17 Jüdinnen und Juden im Ort. Die Kultusgemeinde verkaufte am 29. März ihre Synagoge, nachdem sie ihre Ritualien in die Aschaffenburger Synagoge überstellt hatte. Bereits Mitte Oktober 1938 lebten keine Israeliten mehr in der Marktgemeinde, so dass der Terror der Reichspogromnacht hier keine Angriffsziele mehr hatte.
Die frühere jüdische Elementarschule (Hauptstraße 29) wird wie die einstige Synagoge (Rathausgasse 11) heute als Wohnhaus genutzt. Über dem Türsturz des ehemaligen Schuleingangs steht noch in hebräische Schrift das Jahr der Erbauung. An der Nordseite des Alten Rathauses erinnert eine dort angebrachte Gedenktafel an die einstige Synagoge und die jüdische Gemeinde in Kleinwallstadt.
(Christine Riedl-Valder)
Bevölkerung 1910
Literatur
- Axel Töllner / Cornelia Berger-Dittscheid Kleinwallstadt. In: Wolfgang Kraus, Gury Schneider-Ludorff, Hans-Christoph Dittscheid, Meier Schwarz (Hg.): Mehr als Steine... Synagogen-Gedenkband Bayern, Bd. III/1: Unterfranken, Teilband 1. Erarbeitet von Axel Töllner, Cornelia Berger-Dittscheid, Hans-Christof Haas und Hans Schlumberger unter Mitarbeit von Gerhard Gronauer, Jonas Leipziger und Liesa Weber, mit einem Beitrag von Roland Flade. Lindenberg im Allgäu 2015, S. 424-435.
- Israel Schwierz: Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation. 2. Aufl. München 1992 (= Bayerische Landeszentrale für politische Bildung A85), S. 237.
- Israel Schwierz: Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation. 2. Aufl. München 1992 (= Bayerische Landeszentrale für politische Bildung A85), S. 237.