Im Laufe des 15. Jahrhunderts wird jüdisches Leben in Günzburg greifbar. Die Stadt gehörte zur Markgrafschaft Burgau und damit zu den Habsburger Erblanden, die zur Förderung der Wirtschaft und als Ausdruck ihrer Autorität eine wohlwollende Judenpolitik verfolgten. Auch gegen den Willen der lokalen Grundherren und des direkten Vasallen, der Burgauer Markgrafen, förderten sie die Ansiedelung von Schutzjuden. 1475 erhielt der Jude Symon Leib als erstes ein temporäres Bürgerrecht in Günzburg. Durch die Zuwanderung von aus Ulm vertriebenen Familien vergrößerte sich ab 1499 eine wachsende Gemeinschaft, die sich zur einzig überregional bedeutenden jüdischen Kultusgemeinde im Südwesten Deutschlands entwickelte.
Enge wirtschaftliche Kontakte zum kaiserlichen Hof stärkten die Position der Günzburger Kultusgemeinde. Seit 1525 war Günzburg Sitz eines Landesrabbinats, deren Amtsinhaber sich ihre Befugnisse von der kaiserlichen Hofkanzlei in Wien bestätigen ließen. Eine Reihe bedeutender Rabbiner lehrten in der Günzburger Jeschiwa. Die angesehene Familie Ulmo-Günzburg, die ursprünglich aus Ulm kam und sich in Günzburg etabliert hatte, besaß eine weithin berühmte Buchsammlung. Ihre Bibliothek wurde bis ins 18. Jahrhundert von Gelehrten aus aller Welt bewundert und bestaunt. Ein äußerst prächtiger Pentateuch aus dem Jahr 1309 befindet sich heute im Besitz der Staats- und Universitätsbibliothek Heidelberg, ein äußerst seltener, vollständiger Babylonischer Talmud von 1342 in der Bayerischen Staatsbibliothek München. Mehr als vier Jahrzehnte lang stand Schimon ben Elieser Ulmo-Günzburg (geb. 1506) – auch bekannt als Seligman Ginzburg – an der Spitze der Gemeinde, der als Großfinanzier weit über die Region wirkte. Als Vertreter der schwäbischen Juden (Stedlan) vertrat er ihre Anliegen auf kaiserlichen Reichstagen.
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erlebte die jüdische Gemeinde ihren wirtschaftlichen Höhepunkt. Das Wohnviertel der Juden lag am Rande der Altstadt in der heutigen Münzgasse und Eisenhausgasse, wo eine Synagoge stand. Günzburg war auch ein Finanzzentrum, das jedoch durch Kredit- und Pfandleihverbote der umliegenden Herrschaften, wie des Klosters Wettenhausen, in seiner Entwicklung behindert wurde. Markgraf Karl von Burgau (reg. 1595-1618), illegitimer Spross von Erzherzog Ferdinand und Philippine Welser, erließ 1616 eine Anordnung, dass die Zinsen nicht über zehn Prozent pro Jahr liegen durften. Da das Risiko der jüdischen Kreditgeber sehr hoch war, lag damit der Zinssatz unterhalb der Rentabilität. Die überbordende Religiosität am Ende seines Lebens bewog den Landesherren auch dazu, ein Jahr später alle Juden aus seiner Residenzstadt Günzburg auszuweisen. Ein gleiches Edikt für sein ganzes Territorium scheiterte am kaiserlichen Judenschutz. Die vertriebenen Günzburger Juden fanden z.T. Aufnahme in Märkten und Dörfern der Reichsritterschaft, andere flohen nach Ichenhausen oder Thannhausen. Als Händler auf den Günzburger Wochen- u. Jahrmärkten waren Juden aber weiterhin geduldet, da der Stadtamtmann sowie der Zolleinnehmer auf die dabei anfallenden Steuern/Gebühren nicht verzichten wollten. Das religiöse Zentrum Schwabens verlagerte sich dann von Günzburg zwischenzeitlich nach Thannhausen.
Die Zahl der im 19. und beginnenden 20.Jahrhundert in Günzburg lebenden jüdischen Bewohner ist kaum erwähnenswert. Heute erinnert in der Stadt nichts mehr an die vor Jahrhunderten einst bedeutende jüdische Gemeinde. Die Gemeinde wurde im 17. Jahrhundert abgerissen.
(Patrick Charell)
Bevölkerung 1910
Literatur
- Wolfgang Wüst. Die habsburgische Zeit (1300–1805). In: Klaus Kraft: Die Kunstdenkmäler von Schwaben. Landkreis Günzburg 1. Stadt Günzburg. München 1993 (= Die Kunstdenkmäler von Bayern. Regierungsbezirk Schwaben 9), S. 25–26.
- K. statistisches Landesamt: Gemeindeverzeichnis für das Königreich Bayern. Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 und dem Gebietsstand von 1911. München 1911 (= Hefte zur Statistik des Königreichs Bayern 84), S. 246.