Jüdisches Leben
in Bayern

Deggendorf Gemeinde

Deggendorf fiel im 13. Jahrhundert an die Wittelsbacher und bekam das Stadtrecht verliehen. Als günstig gelegener Verkehrsknotenpunkt war der Ort ein natürliches Wirtschaftszentrum. Im ausgehenden Mittelalter führte das Herzogtum Baiern aus Böhmen Met, Wolle, Kupfer, Eisen, Blei, Wachs gegen Salz, Getreide, Vieh, Leinwand und Bretter über Deggendorf und Regensburg ein. Mit dem privilegierten Marktzwang konzentrierte sich der gesamte Handel auf den städtischen Marktplatz. Ältere Thesen, wonach sich ein jüdisches Wohnviertel oder gar ein geschlossenes Getto vor dem Unteren Tor am südlichen Marktplatz befunden haben soll (heute Michael-Fischer-Platz), lassen sich bislang weder durch archivalische noch archäologische Funde untermauern. Auch die Erzählung, dass die Heilig-Grabkirche St. Peter und Paul angeblich auf einer Synagoge errichtet wurde – was in anderen Städten nach Pogromen und Vertreibungen durchaus vorkam, etwa in Regensburg, Nürnberg, Bamberg oder Landshut – lässt sich für Deggendorf durch nichts belegen. Die jüdische Gemeinschaft wurde 1338 in einem grausamen Pogrom ausgelöscht. Da sie vor ihrer Vernichtung keine Erwähnung gefunden hatte, war sie zahlenmäßig sicherlich klein. Im Verlauf der nächsten Jahrzehnte siedelten sich wieder Juden in Deggendorf an. Kaiser Sigismund (reg. 1410-1437) forderte in einer Urkunde vom 7. Januar 1415 eine außerordentliche Reichssteuer von "allen und jeglichen Juden und Jüdinnen in den Städten zu Regensburg, Straubing, Tekkendorf [= Deggendorf], Vilshofen, Schärding, Landau, Dingelfingen [= Dingolfing]", sowie allen anderen Städten, Märkten und Adelssitzen in Niederbayern. Bereits 1450 wurden alle Israeliten aus dem Teilherzogtum Bayern-Landshut vertrieben, die nächste Nachricht über fünf jüdische Einwohner in Deggendorf stammt erst wieder aus dem Jahr 1843. Weil ihre Zahl bis ins 20. Jahrhundert zu klein blieb, um einen eigenen Minjan zu bilden, gehörten die Deggendorfer Juden der Kultusgemeinde Straubing an und wurden dort auch beigesetzt. Zwischen 1945 und 1949 lebte eine DP-Gemeinde auf dem Gelände der Alten Kaserne am heutigen Stadtpark. Die in dieser Zeit verstorbenen Juden ruhen in einer eigenen Abteilung auf dem kommunalen Friedhof. 1989 wurde für sie eine Gedenktafel angebracht.

Im Herbst 1338 ermordeten die Bürger von Deggendorf mit Unterstützung des herzoglichen Stadtrichters die jüdischen Einwohner der Stadt. Eine Inschrift in der Deggendorfer Grabkirche nennt zwar das falsche Jahr (1337), gibt aber den genaueren Zeitpunkt an: "Am nächsten Tag nach Sankt Michaels-Tag", also am Tag nach dem 29. September. Das Datum ist ungewiss und steht im Widerspruch zu einem Bericht in den Windberger Annalen, entbehrt jedoch nicht einer gewissen Logik: Am Fest des Erzengels wurden Steuern, Schulden, Löhne und Abgaben bezahlt. Das Tatmotiv geht nämlich ganz unverblümt aus einer Urkunde Herzog Heinrichs XIV. von Niederbayern (reg. 1310-1339) hervor: Habgier.

Am 14. Oktober 1338 verzieh der Herzog seiner Stadt, dass sie "Unsere Juden zu Deggendorf verbrannt und getötet haben. Außerdem wollen Wir, dass sie das, was sie diesen Juden an Habe genommen haben oder was von ihnen heimlich oder öffentlich in ihre Gewalt gekommen ist, alles behalten sollen, auch das, was sie denselben zurückzahlen sollten. Darum sollen die Bürgschaften, Pfandbriefe und anderen Urkunden, die die Juden innehatten, oder was sie ihnen sonst zurückzahlen sollten, völlig getilgt sein […]." Zeitgenössische Annalen erwähnen einen weiteren möglichen Grund für den Mord an den Juden in Deggendorf, aber auch in Straubing und anderen Orten im östlichen Niederbayern: Im Jahr 1338 kam es offenbar zu einer größeren Heuschreckenplage, welche die Ernte vernichtete und – auch das leider nichts Ungewöhnliches – ebenfalls dem unheilvollen Einfluss der Juden zugeschrieben wurde. Der Deggendorfer Judenmord kann auch in einem Zusammenhang mit der sogenannten Armleder-Verfolgung 1336-38 stehen, jener Kette von Pogromen, die ausgehend von Röttingen in Unterfranken, am Mittelrhein und im Elsass tausenden Juden das Leben kostete.

Unmittelbar nach dem Raubmord entstand in Deggendorf die apologetische und zutiefst stereotype Legende einer Hostienschändung. Diese judenfeindlichen Geschichten beruhen auf dem katholischen Verständnis der Realpräsenz Christi in konsekrierten Hostien. Das Prinzip der Transsubstantiation ist bis heute Gegenstand kirchlicher Disputationen und so komplex, dass sie im einfachen Volk nur in naiver Verballhornung verstanden werden konnte. Die recht schablonenhafte, typische Deggendorfer Erzählung wird im "Carmen de hostiis Deggendorfensibus" schriftlich festgehalten und erstmals um 1500 in Bamberg gedruckt:

Eine christliche Magd in jüdischen Diensten stiehlt für ihren Herrn das Allerheiligste aus der Pfarrkirche, worauf die Juden mit allen möglichen Mitteln versuchen, die Hostie (und damit Christus selbst) zu zerstören. Das Sakrament blutet, ein Jesuskind erscheint, zuletzt gar die Muttergottes selbst, die mit lauter Stimme ihren Sohn beklagt. Über dem jüdischen Haus erstrahlt als weiteres Wunder ein helles Licht, das einen Nachtwächter auf der Straße alarmiert. Das Gedicht schildert nun den typischen, blutigen Verlauf eines Pogroms: Fünfzig Bürger und Stadtknechte rotten sich zusammen, verschließen die Stadttore und stürmen das jüdische Viertel. Sie überwinden den verzweifelten Widerstand, töten Männer und Frauen, brandschatzen die Häuser. Dann "kom[t die Hostie] geflogen /auß dem fewr gar unbetrogen" und schwebt über der Szenerie, um sich schließlich auf einem herbeigeeilten jungen Ordenspriester aus Niederalteich herabzulassen. Die Hostie wirkt unmittelbar darauf Wunder, heilt Kranke und Bresthafte, woraufhin ein eigener Kirchenbau zur Aufbewahrung errichtet wird. Soweit die Legende von der Hostienschändung. In den Worten von Prof. Franz Mußner: "Das 'Mirakel' (die angeblich seit dieser Zeit unversehrt erhaltenen Hostie) ist ein Produkt der Verleumdung, das die Historizität der Hostienschändung ‚beweisen‘ soll."

In der ab 1338 bis ins 15. Jahrhundert erbauten, später noch um einen barocken Glockenturm ergänzten Heilig-Grabkirche St. Peter und St. Paul wurde die angeblich wundertätige Hostie in einem Sakramentsaltar aufbewahrt. Im 17. und 18. Jahrhundert erweiterte man den Altar zu einem derb-volkstümlichen "geistlichen Theater": Wie in einem Guckkasten hoben nun vollplastisch ausgeführte Juden ihre Hämmer, um auf die Hostien einzuschlagen. Die Figuren stiftete wahrscheinlich der kaiserliche Hofrat Caspar Aman (1616-1699), ein gebürtiger Deggendorfer. Um diesen Altar entstand eine Wallfahrt vom 29. September bis 4. Oktober, die "Deggendorfer Gnad". Eine Besonderheit war der jährlich stattfindende "Gnadenmarkt" mit Wallfahrtsandenken, Kerzen, Textilien und Haushaltswaren, zu dem nur Deggendorfer Händler und Wirte zugelassen waren. Welche große wirtschaftliche Rolle dieser Wallfahrtsmarkt spielte, verdeutlicht die Zahl von 140.000 Wallfahrern, die zum zehntägigen Jubelablass von 1737 die Grabkirche besuchten. Die Kirche und die Gnadenmonstranz wurden auf Andachtsbildchen, Devotionalien, und ab dem späten 19. Jahrhundert auch auf touristischen Postkarten abgebildet. Weil er im Laufe der Zeit seine wirtschaftliche Bedeutung eingebüßt hatte, fand 1981 der letzte Gnadenmarkt statt.

Nachdem die Wallfahrt als solche vereinzelt schon im 19. Jahrhundert Kritik erfahren hatte (unter anderem von Ludwig Steub), versuchte der Regensburger Bischof Rudolf Graber 1962, die Sinngebung der seit 1960 heftig umstrittenen Wallfahrt zu erweitern, um ihre Weiterführung zu sichern. Bei der "Gnad" solle zusätzlich Sühne geleistet werden für all die Verbrechen, "die unser Volk begangen hat, im frühen Mittelalter, im späten Mittelalter […], vor allem in der jüngsten Vergangenheit". Es ist jedoch ein Widerspruch in sich, gleichzeitig Sühne für einen Hostienfrevel und für wegen dieses Hostienfrevels ermordete Juden leisten zu wollen, weswegen dieser Versuch scheiterte. Die zeitweise weltweit beachtete Auseinandersetzung um die "Gnad" ging daher weiter, bis der Kirchenhistoriker Manfred Eder 1992 in seiner Dissertation über die Deggendorfer Hostienwallfahrt erstmals umfassend die historischen Hintergründe ihrer Entstehung offenlegte.

Da nun die Haltlosigkeit jüdischer Hostienschändungen auch für den Deggendorfer Fall endgültig bewiesen war, stellte Grabers Nachfolger Manfred Müller die Wallfahrt noch im selben Jahr ein. Die Gnadenpforte wurde vermauert und 1993 mit einer Gedenktafel versehen. Seitdem widmet das Stadtmuseum Deggendorf der "Gnad" und seiner Geschichte einen Teil der Dauerausstellung.

Deggendorf gehörte bei der amerikanischen Militärverwaltung nach 1945 zum Distrikt IV Regensburg. Zwischen September 1945 und Juni 1949 richtete die US-Armee in Deggendorf das DP-Lager 7 ein, in dem zeitweise fast 2000 Personen lebten. Das Lager befand sich in der Alten Kaserne (Am Stadtpark 1-39), die ursprünglich als Kreisirrenanstalt errichtet worden war und während des Krieges als Gefangenenlager diente. Auf das Gelände zogen zunächst etwa 700 Juden, die aus dem Konzentrationslager Theresienstadt befreit wurden und über Prag in die US-Besatzungszone gelangten. 300 dieser Überlebenden waren bereits über 60 Jahre alt. Zu Anfang hatten die logistisch überforderten Militärbehörden keinerlei Vorbereitungen zur Unterbringung der an Leib und Seele kranken Menschen getroffen. Erst nach Wochen besserte sich die Situation. Im Herbst 1945 übernahm die UNRRA die Verwaltung der DP-Lager, 1947 wurde sie von der IRO abgelöst. Das DP-Lager Deggendorf entwickelte sich zu einer Stadt in der Stadt, auch wenn viele der Geretteten weiterhin in notdürftig erbauten Holzbaracken auf dem Gelände wohnen mussten.

Neben schulischen Einrichtungen (Volks- und Mittelschule) gab es einen Gemischtwarenladen und einen Theatersaal. Eine lagerinterne Schauspielgruppe unter Eugene Deutsch spielte dort und in Regensburg vor Insassen der anderen DP-Lager das "Weiße Rössl". Zur spirituellen Erbauung der DP-Gemeinde dienten ein Gebetsraum, Ritualbad und Cheder. Eine zusätzliche Besonderheit war das Altenheim, das sich im Städtischen Elisabethenheim in Deggendorf befand. Verstorbene fanden auf dem kommunalen Friedhof ihre letzte Ruhe. Die Lagerverwaltung gab eine wöchentliche jiddische Lagerzeitung heraus und verwendete (wie das große DP-Lager Feldafing) für die interne Wirtschaft eine eigene Währung, den "Deggendorf Dollar". Die Bewohner wollten zumeist nach Israel oder Amerika auswandern. Daher bildete sich im Lager die zionistische Gruppe Noam, die sich auf die Auswanderung vorbereitete. In verschiedenen Kursen konnten sie handwerkliche Fähigkeiten erlernen. Aufgrund der großen Anzahl der jüdischen DPs öffneten in Plattling und anderen Orten weitere Außenstationen. In Mainkofen und in Mietraching wurde von der Gruppe Noam je ein Kibbuz zum Training für die Landwirtschaft als Vorbereitung zur Auswanderung nach Israel installiert. Auf dem Gelände der Josef Wallner Schifffahrtsgesellschaft bestand sogar ein Marine-Kibbuz. Neben der Kibbuzbewegung sorgte die ORT für eine Ausbildung Jugendlicher in sieben Fachkursen: Schlosserei, Automechanik, Zahntechnik, Modistik, Lederverarbeitung, Damenschneiderei und Krankenpflege. Nachdem die meisten DPs im Ausland eine neue Heimat gefunden hatten, konnten bereits 1948 die Kibbuzim und das Nebenlager in Mietraching schließen. Das Lager 7 wurde am 15. Juni 1949 ganz aufgelöst und die noch verbliebenen Bewohner nach Föhrenwald verlegt.

 

Persönlicher Dank geht an Univ.-Prof. Dr. Dr. habil. Manfred Eder für seine freundliche Unterstützung.

(Patrick Charell)

Bevölkerung 1910

Literatur

  • Manfred Eder: Vom Judenmord zur Hostienwallfahrt. Die schriftlichen und gegenständlichen Quellen der "Deggendorfer Gnad" und die Ablässe der Grabkirche. Deggendorf 2022 (= Kataloge der Museen der Stadt Deggendorf 41 / Deggendorf - Archäologie und Stadtgeschichte 21).
  • Rolf Kießling: Jüdische Geschichte in Bayern. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin/Boston 2019 (= Studien zur jüdischen Geschichte und Kultur in Bayern 11), S. 30, 72, 88, 92f, 123f, 156, 469, 563.
  • Roman Zaoral: Der bayerische und der böhmische Pfennig. In: Milan Hlavačka u.a. (Hg.): Tschechien und Bayern. Gegenüberstellungen und Vergleiche vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Konferenzband des Collegium Carolinum, des Historicky ústav AV ČR und des Hauses der Bayerischen Geschichte zur Bayerisch-Tschechischen Landesausstellung 2016/2017 in Prag und Nürnberg. München 2016, S. 29-49, hier: 31.
  • Manfred Eder: Drei Kritiker der „Deggendorfer Gnad“ aus drei Jahrhunderten: Johann Heinrich von Golling (um 1733-1802), Ludwig Steub (1812-1888) und Karl (P. Gunther) Krotzer (1920-1994). Deggendorf 2016 (= Deggendorf – Archäologie und Stadtgeschichte 18).
  • Birgitta Petschek-Sommer: Die Deggendorfer Gnad: Tatsachen und Legende. Begleitheft zur Dauerausstellung im Stadtmuseum Deggendorf. Deggendorf 2014 (= Kataloge der Museen der Stadt Deggendorf 32 / Deggendorf - Archäologie und Stadtgeschichte 17).
  • Roman Smolorz: Displaced Persons und einige "ex-enemy-nationals" aus Mittelost- und Osteuropa am Beispiel der Stadt und des Landkreises Deggendorf 1945-1949. In: Deggendorfer Geschichtsblätter 27 (2005), S. 283-316.
  • Birgitta Petschek-Sommer: Jüdische "Displaced Persons" in Deggendorf 1945-1949. In: Deggendorfer Geschichtsblätter 20 (1999), S. 283-316.
  • Stadt Deggendorf (Hg.): „Grüße aus Deggendorf“. Deggendorf in alten Ansichtskarten. Begleitheft zur gleichnamigen Sonderausstellung in den Museen der Stadt Deggendorf. Deggendorf 1995 (= Kataloge der Museen der Stadt Deggendorf 13 / Deggendorf – Archäologie und Stadtgeschichte 6) S. 56f.
  • Manfred Eder: Die „Deggendorfer Gnad“. Entstehung und Entwicklung einer Hostienwallfahrt im Kontext von Theologie und Geschichte. Passau 1992.
  • Stadt Deggendorf (Hg.): Deggendorf - Da schau her. Deggendorf 1991, S. 28.
  • Stadtmuseum Deggendorf (Hg.) / Beate Spiegel: Markt und Handel im Stadtmuseum Deggendorf. Begleitheft zur Dauerausstellung. Deggendorf 1987 (= Kataloge des Stadtmuseums Deggendorf 4).
  • Johannes Molitor: Deggendorf - Die Stadt und ihre Mitte. In: Deggendorfer Geschichtsblätter 7 (1986), S. 7-36, hier 21.
  • Waltraud Eibl: Zur Geschichte des Grabkirchenturms in Deggendorf. In: Deggendorfer Geschichtsblätter 3 (1983), S. 43-49.
  • Karl Bosl (Hg.) / Peter u. Renate Blickle: Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern, Abt. II: Franken und Schwaben vom Frühmittelalter bis 1800, Bd. 4: Schwaben von 1268 bis 1803. München 1979, S. 458f.
  • Germania Judaica. Bd. II: Von 1238 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Teilband 1, Tübingen 1968, S. 157.
  • K. statistisches Landesamt: Gemeindeverzeichnis für das Königreich Bayern. Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 und dem Gebietsstand von 1911. München 1911 (= Hefte zur Statistik des Königreichs Bayern 84), S. 43.