Nach dem Sturz des NS-Regimes 1945 wurde Bad Reichenhall eine Heimat auf Zeit für tausende jüdische Displaced Persons, die zumeist aus Osteuropa stammten und nach der Befreiung der Arbeits- und Vernichtungslager im Land der Täter strandeten. Die US-Amerikanische Besatzungsmacht richtete zusammen mit der UNRRA ein großes DP-Lager in der Hohenstaufen-Kaserne ein; zusätzlich wurde Wohnraum im Stadtgebiet für eine DP-Gemeinde beschlagnahmt. In Bad Reichenhall fand am 25.-27.Februar 1947 der zweite und vom 30. März bis 1. April 1948 dritte Kongress der Befreiten Juden in der Amerikanischen Besatzungszone statt, auf denen politische, kulturelle und soziale Fragen besprochen wurden. DP-Lager und -Gemeinde bestanden bis 1949 bzw. 1951.
Das Gelände und die vergleichsweise modernen Gebäude der 1934 erbauten Hohenstaufen-Kaserne am Westufer der Saalach wurden zum großen DP-Lager "Tikwa" (hebr. Hoffnung) umgewidmet. Im Juni 1947 hatten dort bereits 1.354 Jüdinnen und Juden, zumeist aus Osteuropa, eine Heimat auf Zeit gefunden. Bis September war ihre Zahl auf 5.880 angewachsen und pendelte bis Januar 1948 bei etwas über 5000 Menschen. Das DP-Lager Tikwa konnte sich unter einem gewählten Vorstand (Dr. Fishman und Josef Smeli) relativ selbstständig verwalten. Informationen über den Alltag, aber auch die bevorstehende Auswanderung lieferte eine jiddische Lagerzeitschrift namens "Der Morgn". Zur körperlichen Ertüchtigung und Entspannung wurden zwei Sport- und Fußballvereine gegründet, Hapoel und Makabi Bad Reichenhall. Im Lager gab es einen Cheder (Tora-Talmud-Schule) und ein Ritualbad. Über eine Synagoge bzw. einen Betsaal ist zwar nichts bekannt, jedoch dürfte es mit einiger Sicherheit auch ein solches provisorisches Gotteshaus auf dem Gelände gegeben haben. Ein eigenes Krankenhaus stand zur Versorgung der an Leib und Seele gezeichneten DPs bereit, und eine interne Lagerpolizei sorgte für Ordnung. Das DP-Lager Tikwa verfügte auch über einen Kindergarten, eine Volksschule und eine Berufsschule, die praktische Kenntnisse für ein neues Leben nach der Auswanderung vermittelte. Mit Gründung des Staates Israels im Mai 1948 begann sich das DP-Lager in Bad Reichenhall zusehends zu leeren. Im März 1949 hatte sich die Zahl der DPs auf 2.418 mehr als halbiert. Am 31 Juli 1951 konnte das Lager schließen. Das Kasernengelände wurde 1958 der Bundeswehr übereignet. Heute ist dort die Gebirgsjägerbrigade 23 stationiert, die immer wieder ehemalige DPs und deren Nachkommen aus Israel, Nordamerika oder Australien bei sich empfängt. Im August 2022 wurde am Hauptgebäude der Artilleriekaserne eine Gedenktafel für die DPs eingeweiht. Die schlichte Tafel trägt die Inschrift: Zur Erinnerung an Tausende von Juden, die den Holocaust überlebten und die von 1945 bis 31. Juli 1951 in der Kaserne in Bad Reichenhall eine vorübergehende Bleibe gefunden haben, ehe sie als freie Menschen nach Israel auswandern konnten. Stadt Bad Reichenhall - Gebirgsjägerbrigade 23".
Parallel zum großen DP-Lager "Tikwa" in der Hohenstaufen-Kaserne beschlagnahmte die US-Armee privaten Wohnraum in Bad Reichenhall, in der Regel von Personen die sich in der NS-Zeit belastet hatten. So kamen in der Stadt ab März 1946 zunächst 46 jüdische Displaced Persons unter. Bis Oktober des Jahres stieg ihre Zahl auf 92 und erreichte im Januar 1948 mit 238 den Höchststand. Die DP-Gemeinde verwaltete sich selbst, unabhängig vom Lager in der Kaserne. Der gewählte Vorsitz bestand aus vier Männern (Eisenberg, Kammermann, Tillinger, Kuperberg) und versammelte sich im Gemeindezentrum, das in der Villa Morgenroth eingerichtet wurde (Rinckstraße). Ansonsten nutzte die DP-Gemeinde sämtliche Einrichtungen auf dem Lagergelände in der Kaserne. Allerdings konnte die Gemeinde über eine eigene Klinik bzw. Sanatorium in der Villa Mirabell verfügen (Mozartstraße 6). Bis Mai 1948 war die Zahl der Gemeindemitglieder auf 44 geschrumpft, wuchs dann jedoch wieder durch die Verlegung von kranken und älteren DPs aus anderen aufgelösten Lagern erneut an. Im Februar 1949 lebten 197 jüdische DPs in Bad Reichenhall. Wohl im Laufe des Jahres wurde die Gemeindeverwaltung dennoch aufgelöst, denn ab 1950 trat sie nicht mehr in Erscheinung.
(Patrick Charell)
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Nonner Straße, 83435 Bad Reichenhall