Jüdisches Leben
in Bayern

Bad Kötzting Gemeinde

In Kötzting selbst gab es zwar nach aktuellem Kenntnisstand auch im Mittelalter keine jüdische Gemeinde, jedoch lebten vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Juden in der Region, die zum Teil auch Böhmen zuwanderten. Ihr religiöses Zentrum war die Kultusgemeinde in Cham. Lediglich zwei jüdische Familien sind ab dem späten 19. Jahrhundert bis in die NS-Zeit in Kötzting ansässig gewesen, die den Ort jedoch ökonomisch und gesellschaftlich prägten: Die Hahns und die Kirschners.

Die Familie Kirschner stammte ursprünglich aus Neznašov (heute ein Ortsteil von Všemyslice) in Südböhmen. Kaufmann Moritz Kirschner (1851-1921) lebte seit 1890 in Kötzting ansässig und beantragte im Jahr 1900 das volle Bürgerrecht. Er war bereits ein respektables Mitglied der Gemeinde, denn das Eckhaus, in dem er mit seiner Familie wohnte und das mühsam aufgebaute Geschäft betrieb, hatte er schon 1896 erworben. Laut dem Familienbogen, den er für seine Einbürgerung ausfüllte, war Moritz Kirschner seit dem 12. Juni 1884 mit Therese geb. Hahn verheiratet; aus der Ehe waren acht Kinder hervorgegangen, von denen vier in Kötzting zur Welt kamen: Helene (1884 in Modlin), Albert (1886 in Modlin), Max (1888 in Modlin), Amalia (1890 in Modlin), Julius (1892 in Kötzting), Josephine (1893 in Kötzting), Ida (1898 in Kötzting), Fany (1900 in Kötzting).

Alfred Kirschner, der älteste, wurde Zollinspektor in Ludwigshafen. Im ersten Weltkrieg diente er 1915 zuerst bei der "2. E(isenbahn) Trainabteilung", später dann beim Grenzschutzbataillon. Im Herbst 1918 wechselte er zur bayerischen Fuhrparkkolonne. Seine Teilnahme am Stellungskrieg in Flandern wird ausdrücklich erwähnt. Max Kirschner fiel 1914 in Frankreich. Eine Gedenktafel auf dem Friedhof in Windischbergerdorf/Cham erinnert an ihn. Daher übernahm der dritte Sohn Julius Kirschner (1892-1940) um 1921 den väterlichen Betrieb, sein Name prangte dann auch gut sichtbar an der Straßenfassade des Hauses. Er betrieb ein Textilgeschäft, auch für Brautmoden, hatte Angestellte und Lehrlinge, war im Leder und Häutehandel tätig. Ab 1928 betrieb er zusätzlich eine kleine Tankstelle vor seinem Anwesen.

"Julius Kirschner errichtete im Hinterhof seines An­wesens einen Spielplatz, auf dem sich nicht nur seine eigenen Kinder amüsieren durften, sondern der auch nicht-jüdischen Kindern zugänglich war. Zu diesem Zweck baute er eine Rutschbahn und stellte den Kindern ein altes Auto zum Spielen zur Verfügung. Das Ergebnis war klar: Regelmäßig nach dem Unterricht, in der Mittagspause und der Freizeit wurde diese Spielgelegenheit von vielen Kindern wahrgenommen. Da es im Winter vielen auswärtigen Kindern unmöglich war, bei der ohnehin nur eine Stunde dauernden Mittagspause nach Hause zum Essen zu gehen, erklärten sich", so sagte Max Kiefl, der damals selbst eines der Schul­kinder war, "verschiedene Familien wie z.B. Ehemann, Decker, Staudinger und eben die jüdische Familie Kirschner bereit, täglich Kinder zu speisen, ohne ein Entgelt dafür zu verlangen". Julius Kirschner gehörte im Mai 1921 zu den 50 Gründungsmitgliedern und Vorstandsmitgliedern des 1. FC Kötzting. Noch im selben Jahr, am 20. Oktober 1921 trat er auch dem Fußballclub beim Turnverein Kötzting bei und ist 1925 als Mitglied des Kötztinger Orchestervereins nachgewiesen. Nach der NS-Machtübernahme hielten die Kötzinger den jüdischen Kirschners noch die treue, sehr zum Unmut der Hetzpropaganda. Am verkaufsoffenen Kirtasonntag verhinderten SA-Leute, dass die Kundschaft in das Geschäft kamen. In der Folgezeit wurden die Hahns und Kirschners systematisch aus dem sozialen und wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen. Im Juli 1939 verließ die Familie ihre Heimat und ging über Regensburg nach Berlin, wo sich ihre Wege zerstreuten.

Der böhmische Kaufmann Elias Hahn (1848-1899) kam im August 1890 mit seiner Frau Fani und drei Kindern aus Rothenbaum nach Kötzing. Im Jahre 1893 erwarb er das Anwesen Plan-Nr. 130 und überschrieb es offenbar postwendend seinem Sohn Salomon. Elias Hahn ruht auf dem jüdischen Friedhof in Windischbergerdorf/Cham. Die 1841 geborene Witwe lebte später in Neuern. Salomon Hahn beantragte 1899 für sich, seine Ehefrau Ida geb. Elsbach (*1865 in Walldorf - Sachsen Meinigen) und die Söhne Max und Josef (1895 u. 1897) das Kötztinger Bürger- und Heimatrecht. Anschließend bemühte er sich um die bayerische Staatsbürgerschaft - er war noch in Böhmen zur Welt gekommen - und erhielt diese am 13. Juni 1900 zugesprochen. Im gleichen Jahr wurde der dritte Sohn Ernst in Kötzting geboren. Familie Hahn ließ das Wohn- und Geschäftshaus 1905 umbauen, wobei auch ein großer Verkaufsraum eingeplant wurde. Ein weiterer, deutlich aufwendigerer Neubau scheiterte letztlich an der Hyperinflation des Jahres 1923.

Das Kaufhaus Hahn bot Stoffe, Manufaktur- und Konfektionswaren an. Aufwendige Werbeanzeigen und relativ niedrige Preise sicherten der Familie einen breiten Kundenstamm. Im Ersten Weltkrieg kämpften alle drei Söhne an der Front: Max Hahn, der inzwischen Politik in München studierte und später auch promovierte, meldete sich sogar als Freiwilliger. Sie überlebten den Krieg und kehrten mit heilen Gliedern in die Heimat zurück. Simon Hahn wurde bei der Generalversammlung im Jahre 1919 sogleich als Kassier in den Vorstand der Feuerwehr gewählt, ein Amt, das er bis zu seiner Zwangsabwahl im Dritten Reich ununterbrochen innehatte. Als im Jahre 1921 der Kötztinger Fußballsport auf Vereinsebene gehoben wurde, zählte auch Josef Hahn zu den Gründungsmitgliedern. Ernst Hahn musste nach Stationen in Würzburg und Frankfurt sein Medizinstudium abbrechen und emigrierte 1923 in die USA. Josef Hahn, in den Kriegsstammrollen noch als Schneider bezeichnet, wurde als Nachfolger seines Vaters aufgebaut. 1930 heiratete er Paulina Zeilberger aus Ermershausen und es hat den Anschein, also ob Simon zusammen mit Sohn und Schwiegertochter das Kaufhaus Hahn gemeinsam führte Nach der NS-Machtübernahme wurde das wirtschaftliche und soziale Leben der Familie Hahn systematisch durch die neue antisemitische Gesetzgebung eingeschränkt. In der Silvesternach 1933/34 beging Dr. Max Hahn in München Selbstmord. Seine Angehörigen veröffentlichten erst im Sommer des drauffolgenden Jahres die Todesanzeige ihres Sohnes. Nach der "Arisierung" 1938 lebte die Familie in München. Simon Hahn konnte über Curacao in die USA emigrieren, wo er in Los Angeles mit seinem Sohn Ernst zusammentraf. Joseph und Paulina Hahn konnten nach Venezuela auswandern und erst 1944 in die USA einreisen.


(Clemens Pongratz)

Bevölkerung 1910

Literatur

  • K. statistisches Landesamt: Gemeindeverzeichnis für das Königreich Bayern. Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 und dem Gebietsstand von 1911. München 1911 (= Hefte zur Statistik des Königreichs Bayern 84), S. 55.