Jüdisches Leben
in Bayern

Bad Kissingen Gemeinde

Bad Kissingen besaß bis zur Deportation der letzten in Kissingen lebenden Juden eine der größten und bedeutendsten jüdischen Gemeinden in Bayern, deren Wurzeln sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Das Martyrologium des Nürnberger Memorbuches nennt Kissingen unter den Orten des fränkischen Raumes, die von der Rintfleisch-Verfolgung 1298 betroffen waren. Wann sich nach dem Pogrom Juden wieder in Kissingen niederließen, lässt sich nicht sicher sagen. Erste urkundliche Belege für die Anwesenheit von Juden nach dem Pogrom finden sich erst wieder im 16. Jahrhundert. Für das Jahr 1553 ist die "Jüdin Witfrau von Kissinge" urkundlich belegt.

In die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs führt die Gestalt des "Jud Schwed", der in den "Deutschen Sagen" Ludwig Bechsteins begegnet. Hinter dieser sagenhaften Figur lässt sich der jüdische Büchsenmacher und Kugelgießer Koppel Meyer erkennen, der bei Bechstein in seinem Verhalten aber widersprüchlich bewertet wird. Mal erscheint er als Verräter, der den Schweden 1626 bei der Belagerung Kissingens den Weg in die Stadt gezeigt hat, mal wird er als Retter gefeiert, der mit seinen unfehlbaren Kugeln den Kissingern half, die Schweden erfolgreich zu vertreiben. Auch in der Folgezeit war die Situation der Juden in Kissingen von Armut, Ausgrenzung und Restriktionen bestimmt. So hatten sie vielfach mit Ablehnung von Seiten der nichtjüdischen Bevölkerung und Obrigkeit zu kämpfen. Neben dem Würzburger Bischof besaßen die adligen Familien von Heußlein, von Schletten, von Münster und von Erthal das Privileg, Schutzbriefe auszustellen und Juden gegen entsprechende Geldzahlungen auf ihrem Grund und Boden anzusiedeln. Doch verlief das Verhältnis zwischen den Schutzherrn und ihren Schutzjuden nicht immer ohne Spannungen. So beschwerte sich etwa 1644 ein Jude bei der fürstlichen Hofkammer, dass ihn sein Schutzherr Barthel Heußlein an der Ausübung seines Gewerbes als Schächter hindere und ihn und seine Kinder bis in sein Haus verfolge. Hintergrund der Beschwerde dürfte sein, dass jüdische Metzger oft rituell unbrauchbares Fleisch sehr preiswert an Christen verkauften, was den Unmut der christlichen Metzger hervorrief. In der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg warf der Rat der Stadt besonders den Herren von Erthal vor, dass sie fremde, hergelaufene Betteljuden "züchteten" und damit gegen die Interessen sowohl der christlichen wie der alteingesessenen jüdischen Familien verstießen.

Die in Kissingen lebenden Schutzjuden mussten dort wohnen, leben und arbeiten, wo ihre Schutzherren Grund und Boden besaßen. So bildeten sich in der Stadt eigene jüdische Wohnbereiche heraus wie in der "Alten Judengasse" (der heutigen Grabengasse) oder dem Judenhof der Herren von Erthal. Den Kern des Judenhofs in der Bachgasse bildete die aus dem 15. Jahrhundert stammende Erthal´sche Burg, in dem 1675 bereits die beiden Schutzjuden Itzig und Bonfeld mit ihren Familien lebten. Die Jahreszahl 1693 an der Pforte eines Hauses im Judenhof verweist zwar auf einen ersten Neubau an dieser Stelle, der aber noch nicht die alte Burg ersetzt haben dürfte, da diese nach dem Chronisten Franz Anton Jäger noch in den 70er-Jahren des 18. Jahrhunderts stand, so dass sie frühestens in den 1770er-Jahren ganz abgerissen und nach und nach durch weitere Häuser ersetzt wurde, die der steigenden Zahl der Erthal´schen Schutzjuden Unterkunft gewährten. 1776 muss der Judenhof weitestgehend fertiggestellt gewesen sein, da ihn in diesem Jahr der Geometer Friderich Joseph Sikenberg bereits als Vierflügelanlage mit eigenem Tor beschrieb. Zu einem Zentrum jüdischen Lebens wurde das Viertel um den Judenhof durch die Synagoge mit Mikwe, die seit 1700 neben dem Judenhof urkundlich belegt ist und später durch Neubauten ersetzt wurde. Um 1795 zog der aus Kleineibstadt stammende Meyer Löb (ca. 1767-1838), der Stammvater der weitverzweigten Familie Kissinger, in den Judenhof und gründete dort eine Familie. Auch im Zeitalter der Aufklärung blieb es den Kissinger Juden verwehrt, das Bürgerrecht zu erlangen, ein ordentliches Gewerbe zu treiben oder einer Zunft beizutreten.

1817 erlangte das bayerische Judenedikt auch in Franken Gültigkeit: Es erkannte die jüdischen Gemeinden zwar erstmals als Religionsgemeinschaften an, wirkte sich aber mit seinem Matrikelparagraphen hemmend auf die Emanzipation der bayerischen Juden aus. Diese konnten sich an einem Ort nur dann niederlassen, heiraten, eine Familie gründen und einen Beruf ausüben, wenn sie eine Matrikelstelle erhalten hatten. In Kissingen wurde 45 (bzw. 46) Juden eine solche Matrikelstelle zuerkannt. Am 4. März 1817 trugen sie sich mit ihren deutschen Familiennamen, die sie dem Edikt zufolge annehmen mussten, in die Matrikellisten ein. Zwei Monate später legten sie in der Kissinger Synagoge den feierlichen "Unterthans-Eid" auf König und Verfassung ab. 1839 wurde Kissingen Distriktrabbinat, das aus 23 jüdischen Gemeinden der Landgerichte Euerdorf, Gemünden, Hammelburg, Kissingen, Münnerstadt und Neustadt mit 2467 Juden in 537 Familien bestand. Kissingen entwickelte sich damit zu einem bedeutenden Zentrum jüdischen Lebens im nördlichen Unterfranken.

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wirkten mit Moses Sußmann Berg (1799/1800-1832), Dr. Lazraus Adler (1840-52), Dr. Gabriel ben Naftali Lippmann (1853-64), Moses Löb Bamberger (1865-99), Dr. Seckel Bamberger (1902-32) und Dr. Max Ephraim (1932-38) angesehene Rabbiner in Kissingen, die zum Teil überregionale Bedeutung erlangten.

1848 beschloss die Gemeinde den Bau einer neuen Synagoge in der Bachgasse, die im März 1854 eingeweiht werden konnte. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts vollzog sich schrittweise die Emanzipation der jüdischen Bevölkerung: 1851 wurde den bayerischen Juden die rechtliche und soziale Gleichstellung zuerkannt, zehn Jahre später hob die bayerische Regierung den hemmenden Matrikelparagraphen auf und wiederum zehn Jahre später erlangten die deutschen Juden mit der Reichsgründung die politische Gleichstellung als deutsche Staatsbürger. Mit der allgemeinen Emanzipation und Gleichberechtigung der Juden im 19. Jahrhundert war auch die Grundlage für den wirtschaftlichen Aufstieg der Kissinger Juden gelegt. Besonders im Kurbetrieb spielten Juden eine bedeutende Rolle. Da die berühmten Heilquellen des Weltbades auch von sehr vielen jüdischen Kurgästen aus dem In- und Ausland besucht wurden, entstand eine große Zahl jüdischer Hotels, Restaurants und Pensionen, in den Sanatorien und Kureinrichtungen der Stadt waren zahlreiche jüdische Ärzte beschäftigt. Aber auch im Einzelhandel, vor allem in der Textilbranche, gab es ein breites Spektrum jüdischer Geschäfte, das vom führenden Modehaus und Hoflieferanten bis zum Billig-Preis-Geschäft reichte. Fast 90 Prozent der jüdischen Gemeindemitglieder lebten um 1930 vom Fremdenverkehr und vom Kurbetrieb. Auch an der Entwicklung der Bevölkerungszahlen lässt sich der Emanzipationsprozess ablesen: Lebten 1816 181 Juden in Kissingen (was 17 % der insgesamt 1064 Einwohner entspricht), so stieg ihre Zahl in den folgenden Jahrzehnten bis zur Jahrhundertwende kontinuierlich an, um danach wieder etwas zu sinken: 1837 lebten 210 Juden (13,1 % der Gesamtbevölkerung) in Kissingen, 1880 waren es 356 (= 9, 2 %) und 1925 504 (= 5, 3 %). Nach Würzburg und Aschaffenburg besaß Bad Kissingen 1925 damit die drittgrößte jüdische Gemeinde in Unterfranken und eine der zehn größten jüdischen Gemeinden in ganz Bayern. 

1894 entschloss sich die jüdische Gemeinde in Bad Kissingen zum Bau einer neuen, großen und repräsentativen Synagoge in der Maxstraße, die den Ansprüchen eines Weltbades entsprach und der gewachsenen Bedeutung der Kultusgemeinde gerecht wurde. 1898 legte der Kissinger Architekt Carl Krampf seine Pläne zum Bau der "Neuen Synagoge" vor, die 1902 nach knapp vierjähriger Bauzeit unter reger Beteiligung der Kissinger Bevölkerung eingeweiht werden konnte. Für die jüdische Gemeinde war sie sichtbarer Ausdruck der gelungenen Emanzipation und ihres Selbstverständnisses als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens.

Ein Beispiel für Antisemitismus im Kaiserreich stellte 1895 die Louis-Stern-Affäre dar: Die Verurteilung des jüdischen Unternehmers Louis Stern aus New York zu einer Gefängnisstrafe von 14 Tagen und einer Geldstrafe von 600 Mark zog eine antisemitische Pressekampagne und internationale diplomatische Verwicklungen nach sich. Louis Stern hatte dem stellvertretenden Badkommissär Freiherr von Thüngen eine Ohrfeige angedroht, als dieser seinen 15-jährigen Sohn während einer Tanzveranstaltung im Kursaal des Saales verwiesen hatte. Louis Stern wurde Beleidigung, Androhung einer Ohrfeige und Widerstand gegen die Staatsgewalt vorgeworfen, obwohl er mit seiner Familie den Saal verlassen und keine Gewalt angewendet hatte.

Auf Initiative des Arztes Dr. Philipp Münz (1864-1944) öffnete die israelitische Kinderheilstätte in der Salinenstraße, die kranken jüdischen (aber auch zum Teil christlichen) Kindern eine Erholung ermöglichte. 1927 wurde der Kinderheilstätte mit dem israelitischen Kurhospiz am Altenberg eine zweite medizinische Einrichtung zur Seite gestellt. Treibender Motor war dabei der langjährige Kissinger Rabbiner Dr. Seckel Bamberger (1863-1934).

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs zeigten sich die Kissinger Juden als große Patrioten: Viele meldeten sich als Kriegsfreiwillige, acht Kissinger Juden fielen, viele wurden schwer verletzt und mit hohen Auszeichnungen dekoriert. Bereits im August 1914 wurden ca. 500 russisch-jüdische Kurgäste als "feindliche Ausländer" aus Bad Kissingen ausgewiesen und auf der Plassenburg bei Kulmbach interniert. Nach Zusammenbruch des Kaiserreichs setzten sich zahlreiche Kissinger Juden für die junge Republik und für Ruhe und Ordnung während der Räteunruhen ein: So riefen im November 1918 die Kurhausbesitzer Nathan Bretzfelder und Siegmund Federlein zusammen mit zahlreichen anderen Kissinger Bürgern zur Gründung einer "demokratischen Vereinigung" in Bad Kissingen auf und im Mai 1919 traten zahlreiche Kissinger Juden der Einwohnerwehr bei, um ihre Vaterstadt vor den Räteunruhen im Land zu bewahren. In der Weimarer Republik häuften sich antisemitische Vorkommnisse. Im Jahr 1920 brachten Unbekannte (vermutlich Mitglieder der Ortsgruppe des judenfeindlichen „Deutschen Schutz- und Trutzbundes“) an Gebäuden antisemitische Plakate an. Die Kissinger Ortsgruppe des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) wandte sich mit einem klärenden Aufruf an die Bevölkerung der Badestadt. Auf Antrag des jüdischen Stadtrates Nathan Bretzfelders untersagte der Stadtrat eine Versammlung des "Schutz- und Trutzbundes" im Hotel Adler. 1923 wurde der Kissinger Kaufmann Karl Renner, der eine rege antisemitische Agitation entfaltete, Ortsgruppenleiter der Kissinger NSDAP. Unter dem Druck der Behörden, des Kurvereins und einiger Kissinger Juden musste er seinen Laden räumen, in dem er antisemitische Literatur vertrieb. Im November 1925 schändeten Unbekannte den jüdischen Friedhof. Die Täter konnten nicht ermittelt werden. Zwei Jahre später setzte sich die Kissinger Ortsgruppe des C.V. im „Jüdischen Familienblatt“ mit den Agitationen des "verbohrten Antisemiten" Karl Renner kritisch auseinander, die Kissingen den kurschädigenden Ruf eines antisemitischen Bades eingetragen hatten, und versuchte zugleich den Schaden zu begrenzen. 1929 verübten vier Angehörige der örtlichen NSDAP einen Anschlag auf die Laubhütte neben der Synagoge. Das Amtsgericht Bad Kissingen verurteilte die Täter lediglich zu einer geringen Geldstrafe. Erst in zweiter Instanz wurden die vier Kissinger Jungnazis zu Gefängnisstrafen verurteilt. Im Juni des folgenden Jahres wurde der Kissinger NSDAP ungeachtet der Interventionen Nathan Bretzfelders, des Stadtrates sowie des Kurvereins die Abhaltung einer antisemitisch ausgerichteten Kundgebung im Saalbau gestattet. Im Juni 1930 hielten elf Mitglieder der örtlichen NSDAP einen öffentlichen Aufmarsch durch die Straßen der Badestadt ab. Beim Passieren der Synagoge, vor der anlässlich des Gottesdienstes viele Juden versammelt waren, sangen sie provozierende antisemitische Lieder.

Nachdem Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, gingen die Kissinger Nationalsozialisten, angetrieben von Kreisleiter Karl Renner, sogleich daran, gegen jüdische Einwohner, die in der Weimarer Republik zu den entschiedensten Gegnern des aufkommenden Nationalsozialismus gehört hatten, vorzugehen. Im März 1933 wurden acht Kissinger Juden unter dem Vorwand „kommunistischer Umtriebe“ vorübergehend in sog. „Schutzhaft“ genommen. In den folgenden Monaten wurden Hausdurchsuchungen in mehreren jüdischen Haushalten, Banken und in der Synagoge durchgeführt, eine Brief- und Telegrammsperre verhängt, die Ferngespräche von Juden überwacht. Im April 1933 starb der jüdische Bankier Louis Hofmann an den Folgen eines Hirnschlages während der sog. „Schutzhaft“. Bereits drei Tage vor dem offiziellen, reichsweiten Boykott am 1. April 1933 wurden in der Kurstadt Boykottaktionen der SA und SS gegen jüdische Geschäfte und Ärzte gestartet, die sich während der darauffolgenden Monate und Jahre nach erneuten Aufrufen wiederholten. Im August 1933 trieb die NS-Ausgrenzungspolitik den Kissinger Kaufmann und langjährigen Stadtrat Otto Goldstein in den Selbstmord. Ende 1933 wurden emigrierte Kissinger Juden durch das „Fränkische Volk“, die unterfränkischen Parteizeitung der NSDAP, öffentlich diffamiert. Für internationales Aufsehen sorgte die sog. „Schwimmbadaffäre“ im Juni/Juli 1934: Am städtischen Schwimmbad war ein Schild mit der Aufschrift „Zutritt von Juden unerwünscht“ angebracht worden, was zahlreiche Proteste im In- und Ausland zur Folge hatte. Im November 1934 wurden die jüdischen Geschäftsleute Daniel und Louis Liebmann verhaftet, ihr Geschäft musste nach Ausschreitungen vor ihrem Textilkaufhaus eine Zeitlang schließen. Zur selben Zeit und in den folgenden Wochen verübten örtliche Nationalsozialisten nächtliche Terrorakte gegen jüdische Geschäfte und Privatpersonen. Im Januar 1935 gaben Unbekannte Pistolenschüsse ins Wohnzimmer Nathan Bretzfelders ab und sprachen sich in Sprechchören gegen dessen Schwiegersohn, den Arzt Dr. Sally Mayer, aus. Im August 1935 demonstrierten Kurgäste im Kurgarten gegen eine angebliche „Judeninvasion“. Am Kurgarten brachten Unbekannte illegale Schilder mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“ an, die aber vom Kurgartenaufseher wieder entfernt wurden. Jüdische Geschäfte wurden durch Beschmieren der Schaufenster mit ätzender Flüssigkeit stigmatisiert, die Inneneinrichtung jüdischer Geschäfte beschädigt. Im selben Monat misshandelten zwei SS-Angehörige den 74-jährigen Juden Wilhelm Wittekind.

Im September 1935 sahen sich zahlreiche jüdische Haushalte und Gewerbebetriebe durch die Nürnberger Gesetze gezwungen, nicht jüdische weibliche Angestellte unter 45 Jahren zu entlassen. Im Mai 1936 kam es zu Ausschreitungen auf dem Kissinger Markt gegen jüdische Kaufleute und zur Schändung des jüdischen Friedhofes. Einen Monat später zeigte sich die Kissinger Polizei gleichgültig gegenüber einem Schuss, der in unmittelbarer Nähe jüdischer Kurgäste einschlug. In den folgenden Monaten setzten die örtlichen Behörden und Parteistellen alle Hebel in Bewegung, um jüdische Kurgäste und Einheimische aus dem Leben der Kurstadt auszuschließen. Im März 1938 verweigerte der Kissinger Stadtrat neun jüdischen Kurbetrieben die Konzession. Die konzessionierten Betriebe mussten Schilder mit Aufschriften wie „Jüdisches Haus“ und „Hier werden nur Juden aufgenommen“ an den Hauseingängen anbringen. Sie durften kein nicht jüdisches weibliches Personal unter 45 Jahren beschäftigen. Im folgenden Monat verbot das Badkommissariat einheimischen Juden den Besuch des Kurgartens. Juden durften aufgrund einer Anordnung des Oberbürgermeisters nur noch speziell gekennzeichnete Bänke in den Parkanlagen benutzen; ihnen wurde zudem der Aufenthalt in „arischen“ Kuranstalten, Gaststätten und Pensionen verboten. Im Mai 1938 erließ das Badkommissariat eine „Benutzungsordnung für das Staatliche Bad Kissingen“ mit weitreichenden Restriktionen für Juden: Jüdische Kurgäste erhielten gelbe Kurkarten. Ihnen wurde der Zutritt zum Kurgarten, den Heilquellen und der Wandelhalle während der Brunnenzeiten und Kurkonzerte verboten. Sie mussten speziell gekennzeichnete Bänke benutzen und durften das Kurhaus, das Kurtheater, Liege-, Sport- und Kinderspielplätze nicht mehr besuchen sowie verschiedene Bäderarten nicht mehr nutzen. Jüdische Geschäfte und Arztpraxen wurden vom Oberbürgermeister einer Kennzeichnungspflicht unterworfen.

Während des Novemberpogroms 1938 setzten ortsansässige SA- und SS-Leute die Synagoge in der Maxstraße sowie die Autohalle Hermann Holländers in Brand. Fenster, Türen, Inneneinrichtungen und Waren wurden in der israelitischen Kinderheilstätte, in Pensionen, Geschäften und Privathäusern zerstört, jüdische Kultgegenstände beschlagnahmt bzw. zerstört. Landrat Dr. Rudolph Conrath ordnete die Festnahme von 28 Juden an, von denen 14 am 12. November ins KZ Dachau deportiert wurden. Die Polizei führte am 12. November einige der inhaftierten Kissinger Juden aneinandergekettet durch die Stadt zum jüdischen Friedhof und zwang sie dort nach vermeintlich "belastendem Material" zu graben, das sich aber als beigesetzte jüdische Ritualien erweisen sollte. Unter demütigenden Rufen Kissinger Bürger wurden die Männer, Hand an Hand gekettet, wieder ins Gefängnis zurückgeführt. In der Folgezeit wurde der Gemeinde die Abhaltung von Gottesdiensten verboten, wogegen sie sich aber zur Wehr setzte. Sie sah sich zudem gezwungen, die Synagoge zu einem Spottpreis zu verkaufen und deren vom Stadtrat beschlossenen Abbruch im April 1939 ohnmächtig zuzusehen. 1938/39 wurden jüdische Kurgäste vollkommen aus Bad Kissingen ausgeschlossen. Ab Mai 1940 mussten Juden unbezahlte Zwangsarbeit leisten, sie mussten ihre Wohnungen und Häuser verlassen und in Sammelunterkünfte ziehen. Im September 1940 wurde Klara Scher denunziert und verhaftet, weil sie einen Text von Stefan Zweig aus dem "Stürmer" abgeschrieben hatte. Nach dem Verhör durch die Gestapo wurde sie ins KZ Ravensbrück deportiert und später in der „Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg“, in der im Rahmen der "Aktion T4" und der "Aktion 14f13" eine Tötungsanstalt eingerichtet worden war, ermordet.

In den folgenden Jahren sahen sich die in Bad Kissingen verbliebenen Juden immer härteren Restriktionen unterworfen: Sie wurden immer mehr von der nicht jüdischen Bevölkerung isoliert, durften nachts ihre Wohnung in den Sammelunterkünften nicht verlassen, mussten den "Judenstern" tragen, bekamen kaum Lebensmittel zugeteilt und durften ihren Wohnort nicht verlassen. Am 24. April 1942 wurden 23 Kissinger Jüdinnen und Juden nach Krasnystaw/Krasniczyn deportiert und im Raum Lublin ermordet. Im Mai desselben Jahres wurden 18 alte jüdische Männer und Frauen in das jüdische Altersheim in Würzburg verschleppt und von dort im September 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Lediglich die 61-jährige Vally Ihl (geb. Sonnenthal), die bereits vor 1933 zum Katholizismus konvertiert war, konnte in Bad Kissingen bleiben, da sie mit ihrem nichtjüdischen Ehemann, dem Arzt Dr. Otto Ihl, in einer sogenannten „privilegierten Mischehe“ lebte. Da Otto Ihl erst 1961 verstarb, blieb seine Frau vor einer Deportation bewahrt. Sie starb mit 68 Jahren am 1. August 1949 in Bad Kissingen. Insgesamt wurden mindestens 147 Personen, die aus Bad Kissingen stammten bzw. dort eine Zeitlang gewohnt hatten, Opfer der Shoah. Genaue Angaben sind schwierig, da viele Juden von Bad Kissingen in andere Städte in Deutschland oder im Ausland flohen und von dort deportiert wurden.

Nach Kriegsende wurde US-Soldaten in der Stadt einquartiert, von denen viele jüdisch waren. Die UNRRA richtete mit der US-Armee eine in der Stadt eine Auffangeinrichtung für DIspalced Persons (DPs) ein, zumeist überlebenden der Arbeits- und Vernichtungslager. Die DPs wurden in der ehemaligen Israelitischen Kinderheilstätte sowie in beschlagnahmten Hotels untergerbacht: Dem Russischer Hof, Hotel Continental und dem Kurheim Gleisner. Wohl in der Kinderheilstätte stand zur geistigen Erbauung ein Betsaal bereit. Die amerikanisch-jüdische Wohlfahrtsorganisation AJDC betrieb eine Kantine und gab Lebensmittelmarken an die DPs aus. 1947 kam Josef Weisler (1910-1989) mit seiner Familie nach Bad Kissingen, wo er bis zu seinem Tod im November 1989 als Kantor tätig war und das jüdische Leben nachhaltig prägte. 1948 konnte er im Betsaal im Jüdischen Gemeindehaus, der aber erst 1956 offiziell eröffnet wurde, erste Gottesdienste abhalten. Von 1948 bis 1950 hatte die International Refugee Organisation (JRO) ihr Hauptquartier für die amerikanische Besatzungszone in der ehem. Manteuffel-Kaserne in Bad Kissingen. Nach Gründung des Staates Israel im Mai 1948 wanderten die meisten DPs aus, wann genau die Gemeinde in Bad Kissingen jedoch aufgelöst wurde ist nicht eindeutig sicher.

1949 fand der Pogromnachts-Prozess gegen 14 Männer am Landgericht Schweinfurt statt: Lediglich Emil Otto Walter, der die Ausschreitungen organisiert hatte, wurde zu zweieinhalb Jahren Gefängnis und zwei Jahren Ehrenrechtsverlust verurteilt, zwölf Angeklagte (unter ihnen der Kreisleiter, der Kreispropagandaleiter und der 2. Bürgermeister) wurden "mangels Schuld" oder "mangels Beweises" freigesprochen, das Verfahren gegen einen Angeklagten wurde eingestellt. 1967 (oder bereits 1963) wurde eine erste Gedenktafel an dem Gebäude angebracht, das an der Stelle der zerstörten Synagoge errichtet wurde. Beschönigend ist auf ihr von der Zerstörung der Synagoge durch die "damaligen Machthaber" die Rede.

Im Jahr 1959 wurde im ehemaligen Gemeindehaus in der Promenadestraße 2 ein Betsaal eingerichtet, der im August 1996 zur Erinnerung an seinen 1989 verstorbenen Gründer und Vorbeter in „Josef-Weissler-Synagoge“ umbenannt wurde.

1988 erhielt Jack Steinberger, der 1921 als Sohn des langjährigen Kantors Ludwig Steinberger und dessen Frau Bertha May in Bad Kissingen geboren worden war, zusammen mit Melvin Schwartz und Leon Lederman den Nobelpreis für Physik. Mit 13 Jahren hatten ihn seine Eltern 1934 zusammen mit seinem älteren Bruder Herbert nach Amerika geschickt. Im Mai 1937 konnten sie mit ihrem jüngsten Sohn Rudolph nach Amerika nachkommen. Nach der Nobelpreisverleihung entstand ein enger persönlicher Kontakt Jack Steinbergers und seiner Familie zu seiner Geburtsstadt: 2001 wurde sein ehemaliges Gymnasium nach ihm benannt, fünf Jahre später wurde ihm die Ehrenbürgerwürde der Stadt Bad Kissingen verliehen. Er starb am 12. Dezember 2020 mit 99 Jahren in Onex (Genf).

1988 wurde außerdem die Ausstellung "Jüdisches Leben in Bad Kissingen" aus Anlass des 50. Gedenktages der Pogromnacht zunächst als temporäre Ausstellung im Stadtsaal und 1989 im ehemaligen Jüdischen Gemeindehaus in der Promenadestraße 2 eröffnet. 1993 nahm das koschere Kurhotel Eden-Park in der Rosenstraße (das seit April 2020 Kurheim Beni Bloch heißt) seinen Betrieb auf und wurde rasch zum neuen Zentrum jüdischen Lebens in Bad Kissingen. Im Jahr 1995 ließ die Stadt Bad Kissingen eine Gedenktafel für 69 Opfer der NS-Verfolgung am Jüdischen Gemeindehaus anbringen. Im Februar 1997 unterzeichneten die Landräte Yoav Givati und Herbert Neder die Partnerschaftsurkunde der Landkreise Tamar und Bad Kissingen. Anlässlich der Einweihung der zerstörten Synagoge vor 100 Jahre ließ die Stadt Bad Kissingen 2002 eine neue Gedenktafel für die zerstörte Neue Synagoge in der Maxstraße gestalten. Landkreis und Stadt Bad Kissingen führten im selben Jahr erstmals Jüdische Kulturtage in der Stadt und dem Landkreis Bad Kissingen durch. Von 2005 bis 2019 betreute Rabbiner Tuvia Hod (1949-2019) in den Sommermonaten die jüdischen Kurgäste im Jüdischen Gemeindehaus. 2009 erhielt Joske Ereli (Hans Josef Ehrlich) (1921-2014), der als Jugendlicher aus Bad Kissingen fliehen musste und später zum Motor der Landkreispartnerschaft Bad Kissingen/Tamar wurde, das Bundesverdienstkreuz für seine Verdienste zur Völkerverständigung und sein Engagement für die deutsch-israelische Freundschaft.

Auf dem Platz der ehemaligen Synagoge errichtete man einen typischen Nachkriegszweckbau, in dem neben Wohnungen lange Zeit das Kissinger Arbeitsamt untergebracht war, bevor die Stadt Bad Kissingen hier Büroräume fand. An der Hauswand zur Promenadestraße wurde unter Oberbürgermeister Hans Weiß 1967 (bzw. 1963) eine Gedenktafel angebracht, die an die Zerstörung der Synagoge erinnert. 1995 ließ die Stadt Bad Kissingen eine Gedenktafel mit den damals bekannten Namen der jüdischen Opfer der NS-Verfolgung am jüdischen Gemeindehaus anbringen. Die 69 jüdischen Männer und Frauen, die auf dieser Tafel genannt werden, sind allerdings nicht alle Opfer der Shoah, die aus Bad Kissingen stammten oder hier einige Zeit wohnten. Man muss von mindestens 147 Personen ausgehen, die in der NS-Zeit in den Tod getrieben, deportiert und ermordet wurden. Anlässlich des 100. Gedenktages der Synagogeneinweihung wurde 2002 eine neue von Ludwig Bauer geschaffene Gedenktafel in der Maxstraße in Form einer aufgerollten Torarolle mit der Hauptansicht der Synagoge aufgestellt, die auf würdige Art und Weise an das zerstörte jüdische Gotteshaus erinnert.

2002 wurde auch das Projekt der virtuellen Rekonstruktion der "Neuen Synagoge" in Angriff genommen, das sich über mehrere Jahre hinzog. Nachdem zunächst das Äußere des jüdischen Gotteshauses von der Architectura Virtualis GmbH (einem Kooperationspartner der TU Darmstadt) unter der Leitung von Diplomingenieur Dr. Marc Grellert virtuell rekonstruiert worden war, konnte man am 1. März 2007 im Rossini-Saal im Rahmen einer ganztägigen Tagung über "Die Synagoge im Wandel der Zeit" auch die Rekonstruktion des Innenraums präsentieren. Seit ihrer Zerstörung in der NS-Zeit hatte man damit zum ersten Mal wieder die Gelegenheit, sich ein Bild vom Inneren der Synagoge zu machen. Seit 2008 verlegt der Künstler Gunter Demnig (*1947) immer wieder Stolpersteine zum Gedenken an emigrierte oder deportierte Juden aus Bad Kissingen. 2020 präsentierten Rudolf und Marlies Walter ihr Biographisches Handbuch - Jüdische Bürger Bad Kissingen erstmals im Rossini-Saal.

Die Kommune beteiligt sich am Projekt DenkOrt Deportationen mit zwei Gepäckstücken: Eines erweitert das zentrale Mahnmal auf dem Würzburger Bahnhofsplatz, das Gegenstück wird vor Ort an die deportierten Opfer der Shoah erinnern. Die Gepäckskulpturen für Bad Kissingen und vier weitere Orte aus dem Landkreis stellten neun Schülerinnen und Schüler der Kissinger Berufsschule her, die bei Beginn des Projektes zwischen 16 und 24 Jahre alt waren. Der Text auf der Messingplakette des DenkOrts Deportationen erinnert an die verfolgten Kissinger Jüdinnen und Juden mit knappen Worten und ruft dazu auf, ähnlichen Entwicklungen in Gegenwart und Zukunft rechtzeitig und entschieden entgegenzutreten: "Im Gedenken an die jüdischen Bürgerinnen und Bürger der Stadt Bad Kissingen 1933-1945. Sie wurden gedemütigt, beraubt, vertrieben, deportiert, ermordet".

In einer Kooperation mit den Central Archives for the History of the Jewish People (CAHJP) in Jerusalem werden von der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns nach und nach die erhaltenen jüdischen Gemeindearchive – darunter das Archiv des Distriktsrabbinats, das Archiv der Israelitischen Kinderheilstätte sowie das Archiv des Kurhospiz für arme Israeliten in Bad Kissingen – digitalisiert, um sie erstmals und vollständig online zugänglich zu machen.


(Hans-Jürgen Beck, Bad Kissingen)

Bevölkerung 1910

Literatur

  • Cornelia Berger-Dittscheid / Hans-Jürgen Beck: Bad Kissingen. In: Wolfgang Kraus, Hans-Christoph Dittscheid, Gury Schneider-Ludorff (Hg.): Mehr als Steine… Synagogen-Gedenkband Bayern, Bd. III/2: Unterfranken Teilband 1. Erarbeitet von Cornelia Berger-Dittscheid, Gerhard Gronauer, Hans-Christof Haas, Hans Schlumberger und Axel Töllner unter Mitarbeit von Hans-Jürgen Beck, Hans-Christoph Dittscheid, Johannes Sander und Elmar Schwinger, mit Beiträgen von Andreas Angerstorfer und Rotraud Ries. Lindenberg im Allgäu, S. 47-105.
  • Magnus Weinberg: Die Memorbücher der jüdischen Gemeinden in Bayern, Bd. 1. Frankfurt am Main 1937, S. 109-117.
  • K. statistisches Landesamt: Gemeindeverzeichnis für das Königreich Bayern. Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 und dem Gebietsstand von 1911. München 1911 (= Hefte zur Statistik des Königreichs Bayern 84), S. 207.