In Pfersee, heute zu Augsburg gehörend, bestand vom 16. Jahrhundert bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine jüdische Gemeinde Die bis 1911 selbständige Kommune gehörte zur Markgrafschaft Burgau und damit zu den Habsburger Erblanden. Die erste Niederlassung erfolgte um 1569, als "Mosse Jued zue Oberhausen, Simon Judens zue Gintzburg son" in Pfersee namentlich bekannt werden. Die Habsburger förderten gezielt jüdische Ansiedlungen und kamen damit den Markgrafen von Burgau sowie den kleineren Grundherrschaften oft in die Quere. Bis 1608 sind vier jüdische Familien, die möglicherweise aus Günzburg stammten belegt. Pfersee war im 18. Jahrhundert Sitz des Landesrabbinats ("Medinat Schwaben"). 1911 wurde der Ort nach Augsburg eingemeindet.
Eine bedeutende Rolle in der Pferseer Gemeinde spielten die Mitglieder der Familie Ulmann (Ulmo-Günzburg, Ulma, Ullmann). Wahrscheinlich aus Ulm stammend, sind sie nach der Vertreibung der Ulmer Juden 1499 zunächst in Günzburg ansässig. Simon ben Elieser Günzburg (1506-1585) war kaiserlicher Hoffaktor und zählte zu den Begründers der Pferseer Gemeinde. Seit 1544 wurden für Simon, dessen Sohn Salomon und weiteren Nachfahren kontinuierlich kaiserliche Schutzbriefe ausgestellt. Die weitverzweigte Familie Ulmann konnte in der Folge einen maßgeblichen Einfluss auf die Gemeinde ausüben. Ihre Bibliothek wurde bis ins 18. Jahrhundert von Gelehrten aus aller Welt bewundert und bestaunt. Ein äußerst prächtiger Pentateuch aus dem Jahr 1309 befindet sich heute im Besitz der Staats- und Universitätsbibliothek Heidelberg, ein äußerst seltener, vollständiger Babylonischer Talmud von 1342 in der Bayerischen Staatsbibliothek München. Auch weitere Nachkommen der Familie waren bis in das 18. Jahrhundert als Hoffaktoren tätig. Die Ulmanns übersiedelten nicht in andere Residenzstädte sondern gaben ihren Wohnsitz in Pfersee nicht auf. Löw Simon Ulmann besaß 1701 ein repräsentatives dreistöckiges Anwesen in der höchsten Steuerklasse und konnte auch seinem Vater einen herausgehobenen Stuhl in der Synagoge in der Nähe des Toraschreins abkaufen. Der Reichtum und die hohe soziale Position der Familie führte dazu, dass beispielsweise im Jahr 1701 alle vier hohen Führungspositionen der Gemeinde von den Ulmanns besetzt wurden.
Pfersee war Sitz des Landesrabbinats für die Markgrafschaft Burgau. So war Schimon ben Jehuda Löb Ulmo (1693-1739) Rabbiner, Richter und Vorsitzender des jüdischen Bezirks "Medinat Schwaben". Außerdem war er königlicher und kaiserlicher Hoffaktor. Seit 1712 Rabbiner in Pfersee war der in Heidelberg geborene Jehuda Löb Oppenheimer (1685-1733). Er war der ältere Bruder von Josef ben Issacher Oppenheimer, genannt Süß, der als Hoffaktor am württembergischen Hof 1733 in einem antisemitischen Schauprozess hingerichtet wurde. Der nationalsozialistische Propagandafilm "Jud Süß" griff dieses Geschehen auf. Um 1750 bewohnten die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Pfersee 28 von den 108 Häuser des Orts. Die Wohnungen befanden sich in der Augsburger Straße, dem Brunnenbachweg und der Leitershofer Straße. Die Verstorbenen wurden auf dem seit 1618 eingerichteten Friedhof in Augsburg-Kriegshaber bestattet. Neben der Synagoge gab es ein Schulhaus und ein rituelles Bad.
1805 kamen die vorderösterreichischen Besitzungen zu Bayern. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts änderte sich durch die Eingliederung Augsburgs und Vorderösterreichs nach Bayern die Gemeindestruktur entscheidend. Versuchte noch 1803 Ephraim Ullmann sich durch eine großzügige Kreditvergabe das Zuzugsrecht in die Reichsstadt Augsburg zu erkaufen, endeten mit der Augsburger Unabhängigkeit auch die jahrhundertealten Beschränkungen. Das Wohnrecht wurde langsam liberalisiert, 1861 fielen die letzten Beschränkungen. Die Zahl der Gemeindeangehörigen in Pfersee, die 1830 noch 137 Personen umfasste hatte, sank bis 1871 auf 45 Personen und betrug 1888 nur noch 13 Personen. Die Auflösung der Gemeinde war deshalb nur folgerichtig. 1911 wurde Pfersee
Der mittelalterliche "Babylonische Talmud" (hebr. Talmud Babli), auch „Pferseer Handschrift“ genannt, wurde wohl um 1342 in Frankreich hergestellt. Als einzige bekannte Handschrift aus dem Mittelalter enthält sie den fast vollständigen Text des Babylonischen Talmuds. Die ohnehin seltenen Talmudhandschriften fielen zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert vielfach christlichen Zerstörungsmaßnahmen zum Opfer. Frühneuzeitliche Besitzeinträge belegen, dass sie sich im Besitz der bedeutenden jüdischen Gelehrtenfamilie Ulma-Günzburg befand, die ab 1620 in Pfersee wohnte. Zuletzt gehörte sie dem Rabbiner Simon ben Sanwil Ulmo (1645-1720). Er war Hoffaktor der bayerischen Wittelsbacher und Habsburger in Wien, außerdem Landesrabbiner des Medinat Schwaben. Als zu Jom Kippur 1803 sein Sohn Ber(nhard) ben Simon Ulmo (1751-1837) unter dem Vorwurf der Geldfälscherei in Haft kam und fast ein Jahr lang unschuldig im Gefängnis saß, ging die einzigartige Handschrift unter bislang nicht völlig geklärten Umständen in den Besitz des Augustiner-Chorherrenstifts Polling über. Noch im selben Jahr wurde das Kloster in der Säkularisation aufgelöst, die mehr als 88.000 Bände fassende Bibliothek zerschlagen: Dr. Paul Hupfauer (1747-1808), letzter Propst des säkularisierten Chorherrenstifts Beuerberg und nun kurfürstlicher Hofbibliothekar, wählte sorgfältig 7000 Bände für die Landesuniversität zu Ingolstadt aus. Etwa 20.000 weitere gingen an die Hofbibliothek in München, der große Rest wurde als Altpapier verschleudert. Unter letzterem befand sich wohl auch die Pferseer Handschrift, denn sie wurde erst 1880 von der Bayerischen Staatsbibliothek aus privater Hand angekauft. Sie gilt als kostbarste hebräische Handschrift der Staatsbibliothek und ist vollständig digitalisiert online zugänglich.
(Patrick Charell)
Bilder
Bevölkerung 1875
Literatur
- Yehuda Shenef: Vom Himmel kämpfen die Sterne. Die Geschichte der Juden im heiligen Pfersee bei Augsburg. Augsburg 2019.
- Yehuda Shenef: Das Haus der drei Sterne. Die Geschichte des jüdischen Friedhofs von Pfersee, Kriegshaber und Steppach bei Augsburg, in Österreich, Bayern und Deutschland. Augsburg 2013.
- Ber Ulmo: Tage des Gerichts. Der Bericht des Ber Ulmo aus Pfersee. Übers. u. komm. von Yehuda Shenef. Friedberg 2012.
- Cornelia Berger-Dittscheid: Augsburg. In: Wolfgang Kraus, Berndt Hamm, Meier Schwarz (Hg.): Mehr als Steine... Synagogen-Gedenkband Bayern, Band 1: Oberfranken, Oberpfalz, Niederbayern, Oberbayern, Schwaben. Erarbeitet von Barbara Eberhardt und Angela Hager unter Mitarbeit von Cornelia Berger-Dittscheid, Hans-Christof Haas und Frank Purrmann. Lindenberg im Allgäu 2007, S. 397-413.
- Sabine Ullmann: Zwischen Fürstenhöfen und Gemeinde. Die jüdische Hoffaktorenfamilie Ulmann in Pfersee während des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 90 (1998), S. 159-187.
- K. statistisches Bureau: Ergebnisse der Volkszählung im Königreiche Bayern am 1. Dezember 1875 [...]. München 1877 (= Hefte zur Statistik des Königreichs Bayern 36), S. 214.