Wolf Wertheimer konnte von seinem Vater Samson Wertheimer ein weit verzweigtes Finanzimperium übernehmen und wurde durch sein Wirken für das Habsburger Kaiserhaus und die kurbayerischen Wittelsbacher zu einem der wichtigsten Vertreter des europäischen Hofjudentums. 1723 ließ er sich als kurbayerischer Hoffaktor und Hofjuwelier dauerhaft in München nieder. Seine Anwesenheit zog weitere jüdische Familien in die Haupt- und Residenzstadt, wo sich dank Wertheimers Einfluss nach Jahrhunderten wieder jüdisches Leben entwickeln konnte. Zweifellos war er ein Virtuose der Kreditgeschäfte, doch am Ende seines Lebens stand er vor einem Scherbenhaufen: "Ein typischer Vertreter jener Classe armer Reicher, unglücklicher Glücklicher, die ihrer Zeit bewiesen, wie die vielbeneideten, weitausgreifenden Creditgeschäfte mit Höfen und Staaten nicht immer eine Quelle der Bereicherung waren, sondern gar den Ruin des Vermögens zur Folge hatten [...]" (David Kaufmann).
Wolf Wertheimer war der Sohn von Veronika Brilin (1658-1715) und des bedeutenden Wiener Hoffaktoren Samson Wertheimer (1658-1724), der sich auf Druck der kaiserlichen Hofkammer mit seinem größeren Konkurrenten Samuel Oppenheimer (1630-1703) zusammenschloss. Finanziell standen die Wertheimers im Schatten von Samuel Oppenheimer. Allerdings konnte Samson Wertheimer eine rabbinische Gelehrsamkeit in die Waagschale werfen, deren innerjüdischer Einfluss auch im Geschäftsleben nicht zu unterschätzen ist: 1693 wurde Wertheimer der Rabbiner von Eisenstadt und ab 1696 bis zu seinem Tod mit kaiserlichen Privileg der Oberrabbiner aller Juden in den Habsburger Erblanden ("Judenkaiser"). Nach Oppenheimers Tod im Jahr 1703 wurde der nun selbstständig handelnde Samuel Oppenheimer mit einem umfassenden Privileg zum "supremum factorem aulicum" ernannt (dt. Kaiserlicher Ober-Hoffaktor). Bereits in dieser Urkunde wird Wolf Wertheimer als Teilhaber der Firma ausdrücklich erwähnt. Die enge Beziehung zu den Oppenheimers blieb durch die 1705 geschlossene Heirat von Wolf Wertheimer mit Samuels Enkelin Tochter Lea (1695-1742) bestehen. Aus der Ehe gingen dreizehn Kinder hervor.
Während Samson bis zuletzt Seniorchef der Firma blieb und die Hauptlast der Verantwortung trug, begab sich Wolf Wertheimer mit einem kaiserlichen Pass und Geleit im Jahr 1722 auf eine "Mission" nach München. In diesem "kurbayerischen Abenteuer" versorgte er den bankrotten Kurfürsten Max Emanuel mit dem nötigen Geld, damit dieser die 1,2 Millionen Gulden (!) teure Hochzeit des bayerischen Thronfolgers Karl Albrecht mit Prinzessin Maria Amalia von Österreich finanzieren konnte. Zum Dank erhielt er 1723 das dauerhafte Aufenthaltsrecht in München, das Recht auf Freizügigkeit im Kurfürstentum und den Titel eines Hofjuweliers.
Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1724 übernahm Wolf nach und nach dessen Faktorentitel und vermehrte diese noch um einige weitere. Schon im August 1724 erwirkte er seine erneute Ernennung zum kaiserlichen Oberhoffaktor, 1726 wurde er ranggleich kurbayerischer Oberhoffaktor und 1732 kurkölnischer Hoffaktor (das Erzstift Köln wurde zu dieser Zeit ebenfalls von einem Wittelsbacher regiert, dem Fürstbischof Clemens von Bayern). 1742 kam noch der Titel eines kursächsischen und damit auch polnisch-litauischen Hoffaktors hinzu.
Die Aufenthaltsgenehmigung für Wertheimer diente einerseits als Präzedenzfall, andererseits zogen sein Einfluss und sein Wirken einige weitere jüdische Geschäftsleute und deren Familien an. Zum ersten Mal seit dem Wittelsbacher Ausweisungsedikt von 1551 bildete sich in München wieder eine kleine jüdische Gemeinde. Der Ehrentitel "Rabbi[ner]" auf Wolf Wertheimer späterem Grabstein lässt darauf schließen, dass er in ihr eine führende Rolle auch in religiösen Dingen ausfüllte. Als sich Simon Wolf Wertheimer 1723 in der bayerischen Haupt- und Residenzstadt niederließ, wurde ihm als Quartier das Rückgebäude der Weinwirtschaft „Zum Weiserwirt“ zugewiesen, die der Witwe Anna Maria Weiser gehörte (Plan-Nr. 161, heute Tal 13). Im gleichen Gebäude wohnten später auch die Hoffaktoren Joseph Mändle und Noe Samuel Isaak mitsamt ihren Familien. Im Volksmund setzte sich der Hausname „Zum Judenbranntweiner“ durch, der spätestens 1778 in städtischen Unterlagen auftaucht. In seiner um 1800 entstandenen, detaillierten Stadtbeschreibung erwähnt Hofkaplan Johann Stimmelmayer (1747-1826) das „Judenbranntweiners und Weisers Haus, worin schon immer [sic] Juden wohnten“. Im Jahr 1728 kam es zu einem Eklat um ein illegales Laubhüttenfest, das im Hause Wertheimer gefeiert wurde. Dass die Münchner Juden gerade Wertheimer die Organisation ihres wichtigen Festes anvertrauten, belegt seine führende Rolle in der kleinen Gemeinschaft. Er übte auch sonst religiöse Autorität aus, darauf lässt der Ehrentitel „Rabbiner“ auf seinem Grabstein in Augsburg-Kriegshaber schließen. Im seiner Wohnstätte befand sich spätestens zur Mitte des 18. Jahrhunderts (nachweisbar ab 1763) die erste neuzeitliche Synagoge Münchens.
Der Titel eines bayerischen Ober-Hoffaktoren brachte Vergünstigungen und Prestige, aber auch ein enormes Risiko mit sich: Weil die Truhen des Kurfürsten stets so leer wie seine Ausgaben hoch blieben, konnte die Münchner Hofkammer den Zins- und Rückzahlungsverpflichtungen nicht ausreichend nachkommen. Schon bald stand das Kurfürstentum mit 13,5 Millionen Gulden im Ausstand. Diese gewaltige Summe konnte auch das Bankhaus Wertheimer nicht mehr stemmen, das wiederum seinerseits Forderungen nicht mehr erfüllen konnte. Das Bankhaus war jedoch in einem komplizierten Räderwerk von Krediten und Schulden so bedeutend, dass sein Ausfall eine ökonomische Katastrophe heraufbeschworen hätte: Die Firma Wertheimer war "too big to fail". Wolf Wertheimer wurde 1733 dazu veranlasst, sich geschäftlich auf München und die Eintreibung seiner Schulden zu beschränken. Er konnte auch die Zinsen für eine Kapitalstiftung zugunsten der Juden in Palästina nicht mehr auszahlen, was ihn wohl persönlich am schwersten belastete. Im Österreichischen Erbfolgekrieg 1740-1748 wurde München von kaiserlich-habsburgischen Truppen besetzt. Wertheimer musste 1744/45 nach Augsburg bzw. Kriegshaber ausweichen. Seiner Beharrlichkeit über Jahrzehnte hinweg ist es zu verdanken, dass 1754 schließlich ein vergleich mit dem neuen bayerischen Kurfürsten Maximilian III. Joseph zustande kam, der eine einigermaßen geordnete Schuldenregulierung und damit eine Sanierung des Hauses Wertheimer ermöglichte.
Trotz allem war der frühere Glanz der Firma Wertheimer endgültig verloren. Hatte Wolf Wertheimer 1723 in Wien zusammen mit seinem Bruder Löw noch über 35 Bedienstete verfügt, waren es nun lediglich sein Buchhalter Herschel Worms, zwei Schreiber, einen Botengänger, einen Hausdiener, einen Schächter und eine Köchin. Ohnehin lag seine Wohnstätte in einem wenig angesehenen Münchner Viertel: Das Tal war die traditionelle Hauptverkehrsader des Salz- und Getreidehandels, wo sich Brauereien und billige Gasthäuser aneinander reihten. In eng verschachtelten Mietshäusern lebten zumeist ärmere Münchner Bürger noch immer wie im Mittelalter. Noch dazu führte direkt am Haus Nr. 161 die hölzerne Hochbrücke über den Kaltenbach und sorgte bei mehreren Hundert schweren Transportwagen pro Tag für eine konstante Lärmkulisse.
Als gern herangezogener politischer Vermittler und geschickter Diplomat im Interesse europäischer Fürstenhäuser war Wolf Wertheimer bedeutsamer als sein Vater. Auf seinem Grabstein, der ihm nach seinem Tode 1756 in Augsburg-Kriegshaber errichtet wurde, wird dennoch eine gewisse Diskrepanz in den Augen der jüdischen Gemeinschaft deutlich: "Hier ist geborgen Rabbi Simon Wolf, Sohn des Gaon, des Fürsten des Landes Israel, Rabbi Samson Wertheim – das Andenken des Gerechten sei zum Segen – aus Wien, gestorben in München Ausgang Sabbat und begraben am Sonntag den 20. Tewet 5525. Es sei seine Seele eingebunden in den Bund des Lebens".
(Patrick Charell)
Bilder
Literatur
- Johann Friedrich Battenberg: Ein Hofjude im Schatten seines Vaters - Wolf Wertheimer zwischen Wittelsbach und Habsburg. In: Ders. / Rotraud Ries (Hg.): Hofjuden - Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert. Hamburg 2002 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 25), S. 240-255.
- Rotraud Ries: Hofjuden – Funktionsträger des absolutistischen Territorialstaates und Teil der jüdischen Gesellschaft. In: Dies. / J. Friedrich Battenberg (Hg.): Hofjuden – Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert. Hamburg 2002 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 25), S. 11-39.
- Claudia Prestel: Jüdische Hoffaktoren in Bayern. In: Haus der Bayerischen Geschichte / Manfred Treml / Josef Kirmaier / Evamaria Brockhoff (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern – Aufsätze. München 1988 (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 17), S. 199-207.
- Johann Paul Stimmelmayer / Gabriele Dischinger u. Richard Bauer (Hg.): München um 1800. Die Häuser und Gassen der Stadt. München 1980, S. 12.
- David Kaufmann: Samson Wertheimer, der Oberhoffaktor und Landesrabbiner (1658-1724) und seine Kinder. Wien 1888 (= Zur Geschichte jüdischer Familien 1).
- Schreiben Kurfürst Karl Albrechts (1729), dass der Weinwirt Hillebrandt, der dem Hoffaktor Wertheimer in seinem Haus die Feier des Laubhüttenfestes gestattet hat, gnadenhalber nicht mit der Hauskonfiskation, sondern nur mit 100 Dukaten zu bestrafen sei. Stadtarchiv München, DE-1992-BUR-1282.
Quellen
GND: 139103791