Biografien
Menschen aus Bayern

Moritz von Hirsch Bankier und Unternehmer, Financier des Orient-Express

geb. 09.12.1831, München
gest. 21.04.1896, Nové Zámky (Neuhäusel)

Wirkungsort: München | Brüssel | Paris | London etc.

Sein voller Name lautete Moritz Freiherr von Hirsch auf Gereuth, international war er vor allem als Baron Maurice de Hirsch bekannt. Er war der zweite Sohn des Bankiers Josef von Hirsch (1805-1885) und Enkel von Jakob von Hirsch (1765-1840). Moritz von Hirsch folgte der Familientradition und arbeitete erfolgreich im Bankgewerbe. Bleibende Bedeutung kommt ihm durch seine weitsichtigen Investitionen in das europäische Eisenbahnnetz zu; den berühmten Orient-Express zwischen Paris und Istanbul hätte es ohne ihn vermutlich nie gegeben. Moritz von Hirsch engagierte sich in späteren Jahren ausschließlich als Philanthrop und unterstützte ungeachtet der Konfessionen zahlreiche humanitäre Projekte. 1891 gründete von Hirsch die "Jewish Colonization Association" (ICA), um verfolgten Juden aus Russland zu helfen. Er war mit Clara geb. Bischoffsheim (1833-1899) verheiratet; ihr einziger Sohn Lucian starb jedoch bereits 1887.

Moritz stieg ins Bankfach ein und arbeitete zunächst im Bankhaus Bischoffsheim & Goldschmidt in Brüssel. Zielbewusst heiratete er Clara Bischoffsheim (1833-1899), die Tochter seines Chefs. Teilhaber wurde er deshalb aber nicht, denn der Chef hielt ihn geschäftlich für "zu wagemutig". Wahre Worte: Im Jahr 1860 gründete Moritz von Hirsch mit seinem Schwager Ferdinand Bischoffsheim das Bankhaus "Bischoffsheim-de Hirsch". 1870 verlegte er den Hauptsitz nach Paris und fusionierte mit der Banque de Dépôts et des Pays-Bas. In Österreich-Ungarn, Belgien und den Niederlanden etablierte Moritz von Hirsch eigene Versicherungsgesellschaften. Seine unternehmerische Dynamik zeigte sich besonders darin, dass er in großem Stil in den Bau von Eisenbahnlinien einstieg. Diese waren das damals beherrschende Symbol des industriellen Fortschritts. Er finanzierte Bahnbauten europaweit, in Belgien, den Niederlanden, im zaristischen Russland und dem entwicklungsbedürftigen Ungarn.

Zwischen 1866 und 1867 war Moritz von Hirsch eine zentrale Figur in der "Guillaume-Luxemburg-Affäre". In Luxemburg, bis heute ein Knotenpunkt für Eisenbahnverbindungen zwischen Frankreich, Belgien und Deutschland, wurde zur weiteren Entwicklung der Stahlindustrie eine Eisenbahnfirma unter dem Namen Guillaume-Luxembourg geschaffen. Mit dem Betrieb dieses Netzes wurden vier Unternehmen betraut, eine französische, eine belgische, eine luxemburgische und eine preußische. Das französische Unternehmen hielt die Kooperation jedoch für unrentabel und drohte, seinen Betriebsvertrag nicht zu verlängern, was die Interessen der Muttergesellschaft direkt gefährdete. Diese Entscheidung steht im Zusammenhang mit den wachsenden französisch-preußischen Spannungen und wurde wohl auch auf Druck von Kaiser Napoleon III. getroffen. Belgische Industrielle schlugen vor, die fehlenden vier Kilometer Bahntrassen quasi als neutrale Macht zu bauen, oder eine Gürtelbahn über Belgien anzulegen. Die luxemburgische Regierung lehnte den Vorschlag jedoch ab, weil sie das Monopol auf ihrem Territorium zu erhalten suchte.

Moritz von Hirsch spielte gekonnt Otto von Bismarck und Kaiser Napoleon III. gegeneinander aus: Er reiste nach Berlin und sicherte sich dort die Zustimmung, dann überzeugte er Paris von der Notwendigkeit einer verstärkten Investition, um nicht den Preußen das Feld zu überlassen. Von Hirsch erhielt mit Vertrag vom 21. Januar 1868 von der französischen Regierung ein garantiertes jährliches Einkommen von 3 Millionen Francs für die Überstellung der Verwaltung und den Betrieb seines Eisenbahnnetzes an die Compagnie des Chemins de Fer Français de l'Est. Kurz darauf verkaufte er seine gesamten Anteile an der "Guillaume-Luxembourg", die beträchtlich an Wert gewonnen hatten. Selbst seine Feinde mussten anerkennen, dass Moritz von Hirsch hier ein geschäftlicher Geniestreich gelungen war - der moralische Aspekt stand jedoch auf einem anderen Blatt, und Bismarck verzieh ihm seine unfreiwillige Rolle darin bis zuletzt nicht.

Im Jahr 1869 vergab Sultan Abdül Aziz (reg. 1861-1876) an Moritz von Hirsch die Konzession zum Bau einer transbalkanischen Eisenbahn, die quer durch die größtenteils von den Türken beherrschte Halbinsel nach Konstantinopel (Istanbul) führen sollte.

Es gab jedoch massive Schwierigkeiten mit dem Terrain und der fehlenden Infrastruktur. Mit dem osmanischen Staatsbankrott von 1875 kamen die Arbeiten einstweilen zum Erliegen. Von Hirsch hatte das Kapital für den Bahnbau noch durch sogenannte "Türkenlose" aufzubringen versucht, und so wurde der Freiherr als "Türken-Hirsch" abgekanzelt, der viele Menschen finanziell geschädigt habe.

Der Bau der Balkanlinie hatte vor dem Bankrott der Hohen Pforte erhebliche Fortschritte gemacht: Die Strecke von Istanbul über Adrianopel (Edirne) nach Plowdiw in Bulgarien war fertiggestellt, ebenso ein Abzweiger an die Ägäis bei Alexandroupoli. Separat lief eine Bahn von Saloniki über Skopje nach Mitrovica. Die sollte über Sarajewo und Zagreb zum Anschluss an die sog. Südbahn (Wien-Triest) weitergeführt werden, und zeigte das starke wirtschaftliche Interesse Österreich-Ungarns am Ausbau seines Orient-Handels. Moritz Hirsch bekam denn auch die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Bis 1888 war, auch durch die Vermittlung des US-Diplomaten Oscar Salomon Straus (1850-1926), die Trasse von Wien nach Istanbul gelegt. Im selben Jahr verkaufte Baron Hirsch, dessen Vermögen nunmehr auf 160-170 Millionen Francs geschätzt wurde, seine Eisenbahn-Anteile an die Deutsche Bank und den Wiener Bankenverein. Er widmete sich bis zu seinem Lebensende ausschließlich karitativen und philanthropischen Aktivitäten. Unter dem neuen Management der belgischen Compagnie Internationale des Wagons-Lits (CIWL) läutete der Orient-Express (türkisch: Istanbul-Viyana Demiryolu) ab 1889 die glanzvollste und luxuriöseste Epoche des europäischen Bahnverkehrs ein. Die Schnellstrecke zwischen dem Pariser Gar de'l Est in Paris und dem Sirkeci Gari am Goldenen Horn rückte Europa näher zusammen und inspirierte Künstler und Kriminalautorinnen.

Meistens wird der Orient-Express ausschließlich dem belgischen Geschäftsmann Georges Nagelmackers (1845-1909) zugeschrieben, der die CIWL 1872 gegründet hatte und bis zu seinem Tod leitete. Das Fundament dieser legendären Bahnstrecke legte jedoch Moritz von Hirsch, der Visionär aus München.

Schon im russisch-osmanischen Krieg (1877/78) hatte sich Moritz von Hirsch um den Bau von Lazaretten für beide Kriegsparteien bemüht, denn deren Sanitätswesen war allenfalls dürftig zu nennen. Auch um Hilfe für die jüdischen Familien sorgte er sich, die vom bulgarischen Kriegsschauplatz zusammen mit vielen Moslems nach Istanbul geflohen waren, denn die russische "Befreiungsarmee" beteiligte sich an Massakern oder tolerierte sie, wenn Bulgaren alles niedermachten oder vertrieben, was nicht slawisch oder orthodoxer Konfession war. Für diese Juden und andere in Istanbul und Izmir (Smyrna) hatte Hirsch schon 1873 die "Alliance Israelite Universelle" mit einer Million Franc ausgestattet.

Ab 1885 wurde er in Russland aktiv, wo über drei Millionen Juden in besonderer Bedrängnis lebten. Aber mit den Behörden des Zaren gestaltete sich die Zusammenarbeit derart schwierig, dass Hirsch, um russischen Juden zur Auswanderung zu verhelfen, 1891 eine "Jewish Colonization Association" (ICA) gründete, die sich um Heimstätten in Kanada, Mexiko und Brasilien kümmerte. In Argentinien, das damals insgesamt eine große Welle der Einwanderung aus Europa erlebte, gründete er sechs Dörfer, da seiner Meinung nach die russischen Juden am besten in der Landwirtschaft aufgehoben seien. Damit hatte er indessen keinen Erfolg. Jedoch: Aus den Juden in der Metropole Buenos Aires entwickelte sich eine bis heute noch vitale Mittelschicht.

Die Summe, die Moritz von Hirsch für philanthropische Zwecke zur Verfügung stellte, beliefen sich auf circa 500 bis 800 Millionen Francs. Damit wurden u.a. folgende Projekte finanziert: Der 1891 gegründete "Baron-Hirsch-Fonds", Wohltätigkeitsbüros in London, Paris, Wien, Krakau, Lemberg und New York, sowie die 1889 in Wien gegründete "Hirsch-Stiftung" zur Errichtung von Schulen für galizische Juden. Seine Organisation half noch 1933 vielen Juden, die auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus dorthin emigriert waren. Als Pan-Europäer stand Moritz von Hirsch auch in freundschaftlichen Beziehungen zu den Häusern Bourbon und Sachsen-Coburg. 1886 wurde er vom fortschrittlich gesinnten Kronprinzen Rudolf von Österreich-Ungarn dem Prinzen Edward von Wales vorgestellt, ab 1901 als Edward VII. britischer König und Kaiser von Indien. Moritz gehörte fortan zu dessen engerer Entourage, sie verband eine gemeinsame Vorliebe für Pferderennen. Den Erlös aus den Siegen seines Gestüts stellte Hirsch den Krankenhäusern in London zur Verfügung.

Gegenüber der jüdischen Auswanderung ins damals osmanische Palästina, wie sie von Theodor Herzl (1860-1904) propagiert wurde, blieb Hirsch jedoch eher skeptisch. Denn weil das morsche osmanische Reich bald zusammenbrechen würde, so seine Befürchtung, würde es von dem imperialistischen Russland vereinnahmt werden, und damit wäre auch Palästina unter das antisemitische Joch der Zaren gefallen.

1887 starb Moritz von Hirschs einziger Sohn, Lucian. Der Baron sprach: "Ich habe meinen Sohn verloren, aber nicht meinen Erben, mein Erbe ist die Humanität". Moritz von Hirsch starb am 20. April 1896 auf seinem ungarischen Gut O-Gyala im Komitat Komorn. Am 26. April 1896 wurde er auf dem Friedhof von Paris-Montmartre beigesetzt. 1899 folgte ihm seine Frau Clara.


Aus der Serie "Gesichter unseres Landes" von der Hanns-Seidl-Stiftung

(Bernd Rill | bearb. Patrick Charell)

Bilder

Literatur

  • Matthias B. Lehmann: The Baron. Maurice de Hirsch and the Jewish nineteenth century. Stanford 2022 (= Stanford Studies in Jewish History and Culture).
  • Benjamin Chelly / Guillaume Picon: Orient Express. The Story of a Legend. Woodbridge 2018.
  • Anthony Burton: The Orient Express. The History of the Orient Express Service from 1883 to 1950. New York 2001.
  • DB-Museum Nürnberg / Jürgen Franzke (Hg.): AK Orient-Express – König der Züge. Frechen 1998.
  • Shereen Khairallah: Railways in the Middle East 1856 – 1948. Political and Economic Background. Beirut 1991.
  • Erika Bosl: Die Familie von Hirsch-Gereuth im 18. und 19. Jahrhundert, Bankiers. In: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.) / Manfred Treml / Wolf Weigand: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, Bd.2: Lebensläufe. München 1988 (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 18), S. 63-70.
  • Stiftung Deutsches Adelsarchiv (Hg.): Genealogisches Handbuch des Adels, Adelslexikon V (Bd. 84 Gesamtreihe), Limburg an der Lahn 1984, S. 232.
  • Mauricio Wiesenthal: The belle époque of the Orient-Express. New York 1979.
  • Kurt Grunwald: Türkenhirsch. A Study of Baron Maurice de Hirsch, entrepreneur and philanthropist. Jerusalem 1966.

GND: 123551307