Biografien
Menschen aus Bayern

Hans Joachim Morgenthau Politikwissenschaftler, Vertreter der realistischen Schule

17.02.1904, Coburg
19.07.1980, New York City

Wirkungsort: Genf | Chicago | New York

Der gebürtige Coburger Hans Joachim Morgenthau entstammte einer gutbürgerlichen jüdischen Familie. Nach einem Studium der Rechte und Politik in Berlin, München und Frankfurt a. M. arbeitete er ab 1932 als Dozent an der Universität Genf und wechselte 1935/1936 nach Madrid. 1937 emigrierte er mit seiner Frau Irma geb. Thormann in die USA, wo auch die gemeinsame Tochter Susanna zur Welt kam. 1943 wurde er Professor der Politischen Wissenschaft an der University of Chicago und leitete ab 1950 das "Center for the Study of American Foreign and Military Policy". Neben George F. Kennan gilt Hans J. Morgenthau als bedeutendster Vertreter einer "realistischen", also primär klassisch-machtpolitisch orientierten Betrachtungsweise der internationalen Beziehungen. Sein Hauptwerk ist "Politics among Nations" (1948), das 1968 unter dem Titel "Macht und Frieden" auch auf Deutsch erschien.

Am 17. Februar 1904 wurde Hans Joachim Morgenthau als (einziges) Kind einer assimilierten, bürgerlich-jüdischen Arztfamilie in Coburg geboren. Seine Eltern waren Frieda geb. Bachmann (1882-1966) und Ludwig Morgenthau (1877-1948), die später beide in die USA emigrierten und dort auch verstarben. Hans J. Morgenthau studierte Rechts- und Staatswissenschaften in Berlin, München und Frankfurt a.M., wo er 1929 mit einer völkerrechtlichen Dissertation promovierte. Nachdem er seine anschließend begonnene Tätigkeit am Arbeitsgericht Frankfurt wegen der nationalsozialistischen Machtübernahme im Jahr 1933 bereits nach kurzer Zeit beenden musste, lehrte er zunächst in Genf, später auf Einladung des international bedeutenden Philosophen und Soziologen Ortega y Gasset in Madrid, wo er auch seine langjährige Partnerin Irma Thormann (1905-?) heiratete. Das Paar bekam eine Tochter, Susanna Gisela Morgenthau. Im Jahre 1937 emigrierten sie in die Vereinigten Staaten, deren Staatsbürgerschaft Hans Morgenthau 1943 erwarb.

Nach verschiedenen Stationen in Lehre und Forschung in New York und Kansas City nahm er einen Ruf als Professor für Politikwissenschaft an die University of Chicago an, wo er ab 1951 als Direktor des "Center for the Study of American Foreign Policy" wirkte. Seine Forschungs- und Lehrtätigkeit in den USA umfasste Gastprofessuren an einer ganzen Reihe renommierter Universitäten, darunter Columbia, Harvard, Yale, Princeton und Berkeley. Seine letzte akademische Station war die New School for Social Research in New York City.

Seine wissenschaftlich bahnbrechenden theoretischen Standardwerke, darunter das in mehrere asiatische und europäische Sprachen übersetzte und in vielen Auflagen überarbeitete "Politics Among Nations. The Struggle for Power and Peace" (dt. "Macht und Frieden. Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik") erschienen in den Jahren 1948-1951. Morgenthau, von seinem namhaften Kollegen Stanley Hoffmann als "Gründervater" der Disziplin Internationale Politik gewürdigt, reklamierte mit seiner Theorie, mit lediglich zwei rudimentären Grundbegriffen – "Interesse" und "Macht" – den Wissenschaftsbereich des Politischen als ein eigenständiges Interaktionsfeld zu charakterisieren, das neben anderen Feldern wie Ökonomie, Geschichte und Recht steht. Die von Morgenthau entwickelte, anthropologisch durch Menschenbilder in den Werken von Hobbes und Machiavelli geprägte Theorierichtung des Politischen Realismus (vulgo Realpolitik) hat in den einschlägigen Fachdiskussionen bis heute viel Zustimmung, aber auch viel Ablehnung gefunden. Ignorieren, da sind sich Befürworter, Weiterentwickler („Neorealisten“) und Gegner einig, konnte man sie niemals. Auch, weil Morgenthaus von der Theorie abgeleitete Analysen operativer Außenpolitik wichtige Hinweise zur zukünftigen Vermeidung außenpolitischer Fehler lieferten. So warnte er, wie sein ehemaliger wissenschaftlicher Assistent an der University of Chicago sich später erinnerte, frühzeitig "vor der Illusion einer weltpolitischen Allmacht der USA, vor der moralischen Selbstgerechtigkeit einer ideologischen Kreuzzugsmentalität und vor den Fehlschlüssen eines utopischen Legalismus, der daran glaubte, dass die Möglichkeiten und Verfahren innerstaatlicher Konfliktregelung leicht auf die Ebene internationaler Politik übertragen werden könnten" (Gottfried-Karl Kindermann).

Erst wenn seine praxisbezogenen Analysen sowohl in akademischen Kreisen rezipiert als auch von außenpolitischen Entscheidungsträgern gewürdigt wurden, fühlte Morgenthau sich vollumfänglich bestätigt. So äußerte er sich in einem persönlichen Gespräch mit seinem früheren Mitarbeiter Kindermann hoch erfreut darüber, dass Henry Kissinger derjenige Staatsmann sei, der "wesentliche seiner, bereits in den frühen fünfziger Jahre formulierten, außenpolitischen Empfehlungen in die Tat umgesetzt habe". Kissinger wiederum würdigte in seinem, im August 1980 in "The New Republic" veröffentlichten Nachruf auf den "Lehrer und Freund" nicht nur den Theoretiker und Denker Morgenthau, den "Analytiker der Macht", sondern auch den "liebenswürdigen und zur Liebe fähigen Menschen", der sich "seines jüdischen Erbes zutiefst bewusst" war. "Er hatte erkannt, dass kein anderes Volk so leicht zum Opfer von Ungerechtigkeit und Leidenschaft werden kann. Deshalb war es für ihn eine besondere Verpflichtung, der Intoleranz und dem Hass entgegenzutreten. Und es war für ihn eine Selbstverständlichkeit, sich nie soweit zu erniedrigen, dass er zu den Methoden griff, die er bekämpfte. Er war ein edler Mensch". Morgenthaus und Kissingers Politikverständnis weichen teilweise heftig voneinander ab, jedoch zieht man beide gerne in die Sparte des amoralischen Machtzynismus. Kissinger war es im Vergleich zu Morgenthau nie möglich, eine eigene systematische Politiktheorie zu etablieren: Kissinger war politischer Pragmatiker und Historiker, Morgenthau politischer Theoretiker. Morgenthau war gegen die Präsenz von Ideologien in der Politik, dagegen für die Verfolgung von Interessen in dieser. Aber auch wenn sich Ideologie nie vollständig aus der Politik entfernen lässt, so bildeten seine Ansichten einen wertvollen politischen Pfeiler in der Nixon-Kissinger-Ära.

Literatur

  • Michael Williams: Realism Reconsidered. The Legacy of Hans Morgenthau in International Relations. Oxford 2007.
  • Gottfried-Karl Kindermann: Zur Leistung und Wirkung von Hans J. Morgenthau. In: Gottfried-Karl Kindermann (Hrsg.): Grundelemente der Weltpolitik. 3. Aufl. Piper 1986, S. 51-53.
  • Henry A. Kissinger: Hans Morgenthau: Ein liebenswürdiger Analytiker der Macht. In: Henry A. Kissinger: Die weltpolitische Lage. Reden und Aufsätze. München 1983, S. 285-290.
  • Gottfried-Karl Kindermann: Hans J. Morgenthau und die theoretischen Grundlagen des politischen Realismus. In: Hans J. Morgenthau: Macht und Frieden. Grundlegung einer Theorie der Internationalen Politik. Gütersloh 1963, S. 19-47.

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